Der unerschrockene Spieler

In Stuttgart widmet sich das Schauspielhaus dem Schicksal der ungarischen Juden. „Zug um Zug – Budapest 1944“ verbindet ein kühles Dokudrama mit einem unter die Haut gehenden Requiem

Aus der Tiefe des Bühnenraums bahnen sich die 14 Schauspieler den Weg durch die dicht gestellten, mit weißen Tüchern abgedeckten Schreibtische, öffnen Schubladen, packen diverse Utensilien aus. Dergestalt erobern sie sich im klaustrophobisch engen, in kaltes Licht getauchten Ambiente einer kafkaesken Behörde ihre Spielfläche. Dann erklingt ein launiger Jazzsong, die Beleuchtung wechselt zu warmem Rot, die Akteure feiern in fröhlichem Taumel einen letzten, kurzen Tanz auf dem Vulkan. Man schreibt den 18. März 1944 – der Vorabend der Besetzung Ungarns durch die Nationalsozialisten. „Zug um Zug – Budapest 1944“, am Karfreitag im Schauspielhaus des Stuttgarter Staatsschauspiels uraufgeführt, will den Schleier des Vergessens lüften, den die Geschichte über das Schicksal der ungarischen Juden gelegt hat.

Sinngemäß werden auf der von Wolf Gutjahr gestalteten Bühne die Tücher von den Schreibtischen gerissen, bevor das Stück, das auf einem nie verfilmten Drehbuch von Josef Rölz basiert, einen historisch verbürgten Fall aufrollt. Die Theaterfassung besorgte der Dramaturg Peter-Jakob Kelting. Faktenlastig, aber packend wie ein Krimi beschreibt das Dokudrama, wie Rudolf Kasztner, Vizechef der jüdischen Hilfsorganisation Waadah, mit Hitlers Mann in Budapest, Adolf Eichmann, und dessen Schergen über den Freikauf seiner jüdischen Landsleute verhandelt.

Der Titel ist von symbolischem Doppelsinn: Der Transport der jüdischen Bevölkerung nach Auschwitz läuft Zug um Zug an, während Kasztner Zug um Zug mit den Nazis um Menschenleben gegen Geld und Waren ringt. „Blut gegen Ware“ diktiert Adolf Eichmann eiskalt die Bedingungen des unmenschlichen Geschäfts, das die ganze Perversion der NS-Ideologie enthüllt. Ein grausames, tödliches Schachspiel mit Menschen als Bauernopfern.

Der Regisseur Elias Perrig versucht den nüchternen Duktus der auf den Verhandlungsmarathon zwischen Kasztner und den Nazis fokussierten, filmisch konzipierten Szenenfolge mit wenigen stilisierten theatralischen Mitteln aufzubrechen. Genüsslich nagt Hauptsturmführer Wisliceny an einem Hähnchenschlegel, während er auf dem Papier hunderttausende von Menschenleben gegen Dollarmillionen verschachert. Leise murmelnd zählen die Mitglieder der Waadah und des Judenrats im monotonen Choral die Opfer. Kasztner versucht in diesem perfiden Machtpoker mit Eichmann und Himmlers Abgesandten Kurt Becher mitzuhalten. Die Zahlen der Toten konterkarieren die Zahlen des Geschäfts.

Vor allem nach der Pause steigert Perrig so das anfangs etwas unterkühlte Spiel zum unter die Haut gehenden Requiem. Auf eine Psychologisierung der Figuren und die Darstellung menschlichen Leids verzichtet das Stück fast ganz. Andreas Schlager gibt den Rudolf Kasztner als unerschrockenen, eloquenten Macher, für den die Frage der Moral hinter der guten Sache zurücksteht. Einer gewissen Faszination der von ihm mit Redekunst und gewagten Bluffs geführten Schachpartie mit dem Gegner kann sich sein Kasztner nicht entziehen. Die Nazis tarnen ihre Perfidie mit einer Maske harmloser Alltäglichkeit. Der Kurt Becher von Philipp Otto ist ein kühl kalkulierender, seinen Vorteil suchender, gönnerhafter Managertyp. Nur der Adolf Eichmann lässt in der Interpretation von Klaus Hemmerle Anzeichen von manischem Wahn aufblitzen.

„18. April 2003“ lauten die letzten Worte, bevor der Vorhang fällt. Etwas vordergründig stellt die Inszenierung den Bezug zur Gegenwart her. Selbstredend verbieten sich Vergleiche mit der Monstrosität des NS-Regimes, aber auch in gegenwärtigen politischen Konflikten sind die Menschen oft nur optional verschiebbares Material auf dem Schachbrett der Mächtigen. Er, der Nazi, werde im Gegensatz zu Kasztner schuldlos ausgehen, weil er einem Juden geholfen habe, prognostiziert Becher in der Schlussszene.

So ist es gekommen. Kurt Becher stieg in den Fünfzigerjahren zu einem der reichsten Männer der BRD auf. Kasztner wurde 1955 in Israel der Kollaboration bezichtigt und kam zwei Jahre später bei einem Attentat ums Leben. Nahezu 600.000 ungarische Juden wurden in noch nicht einmal einem Jahr von den Nazis ermordet. 1.684 konnten dank Kasztners Einsatz entkommen. „Über jene zu richten, die in äußerster Bedrängnis keine andere Wahl sahen, als möglichst große Gruppen zu retten, kommt uns nicht zu“, schreibt der Holocaustforscher Götz Aly. Dem ist nichts hinzuzufügen, und das versucht die Stuttgarter Inzenierung auch nicht. CLAUDIA GASS

Termine: 23. 4., 2., 9., 24. 5., Schauspielhaus Stuttgart