Per Express in die Schulgeschichte

Als hätte es die internationalen Studien Pisa und Iglu nie gegeben: Niedersachsens Schulpolitiker haben sich fürs Modell 60er-Jahre entschieden – scharfe Trennung der Schüler nach Begabung. Mit zehn müssen sich Kids entscheiden: Uni oder nicht Uni

CDU und FDP wollen zurück zum „begabungsgerechten Schulwesen“

aus Hannover JÜRGEN VOGES

Der Rückmarsch in die Bildungslandschaft der 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts kann dem neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff (CDU) gar nicht schnell genug gehen. Noch im Juni, drei Monate nach der Wahl Wulffs, werden CDU und FDP im Landtag das niedersächsische Schulgesetz verschärfen. Den Schülern steht dann eine noch frühere Auslese nach Leistung bevor. Als habe es die schlechten Pisa-Noten für die sozial und leistungsmäßig gespaltene Bildungsnation nie gegeben, setzt die neue schwarz-gelbe Koalition wieder auf das alte dreigliedrige Schulsystem.

Hauptschule, Realschule und Gymnasium sollen künftig bereits mit den fünften Klassen beginnen – zwei Klassenstufen früher als bislang. Das bedeutet, dass die Orientierungsstufe komplett abgeschafft wird. Sie war bislang eine selbstständige (wenn auch halbherzig betriebene) Schulform, die niedersächsischen Fünft- und Sechstklässlern die Wahlmöglichkeit für die weiterführenden Schulen offen hielt. Neue Gesamtschulen wird es in Niedersachsen nicht mehr geben.

Die Regierungsfraktionen von CDU und FDP wollen mit dem Gesetz nach ihren eigenen Worten ein „begabungsgerechtes Schulwesen“ oder auch „profilierte Schulen, ausgerichtet auf die vielfältigen Begabungen der Kinder“, schaffen. Nimmt man solche Schlagwörter für bare Münze, so müssten dem dreigliedrigen Schulsystem unterschiedliche Begabungen entsprechen, die Gott oder die Natur niedersächsischen Kindern in die Wiege legen. In Wahrheit zementieren die niedersächsischen Konservativen und Neoliberalen wohl alte soziale Schranken im Bildungssystem – und richten neue auf.

Die öffentliche Debatte darüber wollen CDU und FDP denn auch auf das Nötigste beschränken. Die Gesetzesnovelle haben die Fraktionen von CDU und FDP eingebracht, so geht es schneller als mit einem Regierungsentwurf. Auf eine erste Lesung im Plenum konnten die beiden Fraktionen verzichten. Im Kultusausschuss gibt es im Mai noch eine Anhörung. Dieses Prozedere zieht eine bemerkenswerte Folge nach sich: Über die wichtigste Änderung der niedersächsischen Schule seit den 60er-Jahren wird der Landtag nur ein einziges Mal debattieren.

Die Landesregierung begründet die Eile damit, dass sie den Wählerwillen schnell umsetzen will. Schließlich hatte Ministerpräsident Wulff schon als Wahlkämpfer die Abschaffung der Orientierungsstufe angekündigt und versprochen, künftig werde der Elternwille bei der Verteilung der Kinder auf die Schulformen ausschlaggebend sein.

Allerdings verschiebt das neue Gesetz die Auslese, derentwegen die Orientierungsstufe unpopulär war und ist, nur nach unten in die Grundschule. Die Schullaufbahnempfehlungen, die bislang noch in den Orientierungsstufen fällt, werden künftig am Ende der vierten Klasse abgegeben. Kinder, die von ihren Eltern gegen die Empfehlung auf das Gymnasium oder die Realschule geschickt werden, haben wie bisher zunächst kein Recht auf eine „Ehrenrunde“ und können bei schlechten Leistungen schon nach dem ersten Jahr wieder von der höheren Schule fliegen. Allerdings ist das erste Jahr im gegliederten Schulsystem nun nicht mehr Klasse sieben, sondern die fünfte.

Bei der Pisa-Studie erreichten 27 Prozent der niedersächsischen Hauptschüler in der Lesekompetenz nicht einmal den Mindeststandard. Sie befanden sich, wie Kultusminister Bernd Busemann (CDU) in seiner ersten Grundsatzrede sagte, „an der Grenze zum Analphabetentum“. Dass deutsche Viertklässler laut Iglu-Studie bei der Lesekompetenz im internationalen Vergleich sehr viel besser dastehen als später die Pisa-getesteten 15-Jährigen, hat Forderungen nach einer längeren gemeinsamen Schulzeit laut werden lassen – selbst in der FDP. In Niedersachsen bereitete FDP-Frakionschef Philipp Rösler allen Gedankenspielen ein Ende: Er stellte umgehend klar, dass er von der Forderung nach „einem dreigliedrigen System ab Klasse 5“ nicht abrücken werde – trotz Pisa und Iglu. Die Schulleistungsstudien zeigten: Die deutsche Grundschule ist leidlich gut. Ab der fünften Klasse, also in der Sekundarstufe, aber trennen sich die Wege der Schüler. Die guten werden besser, die schlechten schlechter.

Im Schulgesetzentwurf heißt es nicht ohne Pathos, junge Menschen seien „unser wichtigstes Kapital“, ihre Ausbildung „Schlüssel für unsere gemeinsame Zukunft“. Zugleich will der Entwurf die kooperativen Haupt- und Realschulen als Schulform abschaffen. Diese Schule sei nur eine Gesamtschule ohne Gymnasialzweig, beharren CDU und FDP auf der eigenständigen Hauptschule. Doch sie können nicht sagen, wie sich Motivation und Lernklima in einer Schule einstellen sollen, in der ein Großteil der Absolventen höchstens noch auf einen Job im Niedriglohnsektor hoffen kann.