Bewegung immer wieder neu definieren

Grundlegender Unterschied zu den sauberen, gesichtslosen öffentlichen Räumen des Westens: In Russland bestimmen Orte, wie sich die Menschen bewegen. Die St. Petersburger Theatergruppe Derevo illustriert dies jetzt im Malersaal in ihrem Stück „Inseln im Strom“ und dem Film „Süd.Grenze.“

von NIKOLA DURIC

Schon letztes Jahr verunsicherten Künstler aus St. Petersburg die Partnerstadt Hamburg während der Ostseekunst-Biennale artgenda. Damals präsentierten sich vor allem Nachwuchskünstler. Beim jetzt anlaufenden Datscha-Projekt im Rahmen des Hamburg-St.Petersburger Sommers sind etabliertere Stars aus Russland nach Hamburg eingeladen.

Für die Sparte Theater und Film ist die avantgardistische Gruppe Derevo (zu deutsch: Baum) zuständig, die bereits im Dezember vorigen Jahres mit der Liebesgeschichte Once in Berlin gastierte. Jetzt werden sie im Malersaal des Schauspielhauses ihr 2002 in Edinburg prämiertes Stück Insel im Strom aufführen. Die Inszenierung schwankt irgendwo zwischen dem Traumafilm La Jete, der die Vorlage für Terry Gilliams Twelve Monkeys war, und einem fast stummen Beckett. Zwischen absurder Bildpoesie und grotesker Pantomime.

Das Matrosenstück Insel im Strom erinnert an Andre Hellers Begnadete Körper im Wodkarausch. Im Metropolis werden Derevo jetzt ihren mit Untertiteln versehenen Film Süd.Grenze. zeigen. Die Handlung des Films lässt sich so schwer nacherzählen wie die Werke von Matthiew Barney. Eine Mephisto-Figur mit Zwerg erlebt „vier magische Abenteuer“. Des weiteren treten auf: Gott, die Gesangsgruppe Delphin, die als Film im Film ihre Show „Energie, Form, Geld“ aufführt und eine formwandlerische Hexe. Ein Schweizer Pärchen verfolgt einen Wolf und einen Hasen. Kurz bevor sie die Tiere in Menschengestalt erwischen, sagt sie: „Du kannst noch so viel Mao lesen, Kaiser wirst du deshalb noch lange nicht.“ Die ganze Handlung spitzt sich in einem Hotel zu. Der Chef eines brennenden Pagen erklärt: „Machen Sie zwei Welten auf, eine große und eine kleine.“ Ab da wirkt Süd.Grenze. wie David Lynchs Eraserhead mit Helge Schneider in der Hauptrolle. Der Film deliriert zwischen Jack Smiths Flaming Creatures und einem Stummfilm von Murnau auf Beats geschnitten. Unterlegt ist das Ganze mit einer aufwendigen Klang-Collage, die sich von Aphex Twin bis zu Vaudeville-Swing bewegt.

Der russische Künstler Ilja Kabakov erklärte einmal, dass im Westen die dominierende Rolle des urbanen Raumes vom Objekt gespielt wird. Es gibt ein endloses Meer an Dingen: Maschinen, Kleider, Möbel füllen das Leben aus. Alles läuft, funktioniert, summt, sieht hübsch aus. Die Orte jedoch, an denen diese Ansammlungen gezeigt werden, haben jede Individualität verloren. Museen, Einkaufszentren und Parkhäuser sind alle unauffällig, hell und sauber. Die Räume funktionieren wie Warenlager für auszustellendes Material.

In Russland ist alles genau umgekehrt. Die Dinge spielen eine untergeordnete Rolle, vor allem darum, weil sie kaum zu bekommen sind. Dafür gehören die Orte, an denen die wenigen Sachen gezeigt werden, den Menschen. Man denke nur an die – zwischen den den 30er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen, mit prunkvollen Mosaiken und Buntglasfenstern verzierten – Moskauer Metrostationen. Kein Vergleich mit den funktionalen Umsteigeplätzen des Westens. Während sich die Menschen im Westen also zu Dingen verhalten, verändert man in Osteuropa seine Haltung anhand der Räume, in denen man sich bewegt. Vielleicht liegt hier das Geheimnis der Theatergruppe Derevo, die – mit wenig Worten, aber einer starken Körpersprache – in Lichtduschen pantomimische Sehnsucht zeigt und die Ästhetik ihres Films von Orten bestimmen lässt, nicht von der Handlung.

4.+5. 5., 20 Uhr, Schauspielhaus (Malersaal)