Standortfaktor Virus

Kann die Lungenkrankheit SARS die Wachstumslokomotive China vom Gleis bringen?

aus Peking GEORG BLUME

Noch ist „Chinas Bill Gates“ in voller Bergsteigerausrüstung auf dem Titelblatt eines Wirtschaftsmagazins an den Pekinger Kiosken zu sehen. Zhang Caoyang, Chef des führenden chinesischen Internet-Portals sohu.com, wollte seine Besteigung des Mount Everest werbewirksam in Szene setzen. Doch nun ist dem populären Unternehmer die Sache peinlich geworden: „Eigentlich ist die Besteigung des Mount Everest ein gefahrvolles Abenteuer, jetzt aber sieht es so aus, als flüchte ich vor der Gefahr“, mailte Zhang aus den Höhen des Himalajas an seine Pekinger Angestellten, von denen die meisten aus Angst vor der neuen Krankheit SARS schon seit Tagen nicht mehr ins Büro kommen. Der Chef zeigte Verständnis. Statt seine Leute zurück an den Arbeitsplatz zu ordern, empfahl Zhang, zu Hause am Computer weiterzuarbeiten, und philosophierte vom Gipfel: „SARS ist ein lautes Brüllen der Natur. Es ist an der Zeit, dass die Menschen Selbstkritik üben.“

So viel Nachdenklichkeit hat chinesischen Managern bislang gefehlt. Mit einem Tempo von aufs Jahr hochgerechneten 9,9 Prozent gab die Wachstumslokomotive Volksrepublik noch in den ersten drei Monaten dieses Jahres Volldampf. An Rückschläge war nicht zu denken. Auslandsinvestitionen in der Rekordhöhe von 12,5 Milliarden Euro flossen in drei Monaten ins Land. Im Monat März, dem letzten vor Ausbruch des Schweren Akuten Respiratorischen Syndroms, stieg die Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahresmonat um 17,5 Prozent, Exporte schnellten um 35, Importe gar um 40 Prozent nach oben. Was wird daraus nun werden? Zieht das SARS-Virus, das bis zum 1. Mai 3.799 Menschen in China infizierte und 181 von ihnen tötete, am Ende auch das Wirtschaftswunder in Mitleidenschaft?

Jörg Wuttke, einer der erfahrensten deutschen Manager in der Volksrepublik, verneint diese Möglichkeit (siehe unten). Doch die Meinungen gehen weit auseinander. Schon haben chinesische Analysten ihre Wachstumsprognose für Peking in diesem Jahr von 10 auf 0 Prozent heruntergefahren. Niemanden, der diese Tage in der chinesischen Hauptstadt verbringt, wird das wundern. Das Tourismusgeschäft ist zum Erliegen gekommen, viele Geschäfte bleiben geschlossen, Restaurants führen nur wenige Gerichte, die gewöhnlich überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel bleiben leer, weil sich viele nicht mehr zur Arbeitsstelle trauen. Zudem wird der Verkehr aus und nach Peking streng kontrolliert, um SARS-Träger aufzuspüren. Das behindert viele Unternehmen. Baustellen stehen still, weil Wanderarbeiter die Stadt verlassen haben und Materialzulieferungen auf den Straßen aufgehalten werden.

Doch Peking allein kann das ganze Land nicht in die Misere stoßen. Optimisten rechnen deshalb vor, dass 54 Prozent der chinesischen Wirtschaft vom produzierenden Gewerbe herrühre – aber von SARS nicht betroffen sei. Gemeint sind damit vor allem die unzähligen Fabriken entlang der chinesischen Küste, die alles vom Knopf bis zum Computer herstellen. Dieser Teil der Wirtschaft bewies seine Widerstandskraft gegen das Virus in der südlichen Küstenprovinz Guangdong, wo SARS im Januar zuerst ausbrach, aber das Wachstum kaum beeinträchtigte. So sehen die Optimisten zwar Reisegeschäfte und Tourismus beeinträchtigt, doch wären davon nur 3 Prozent des chinesischen Bruttosozialprodukts betroffen. Schwerer wiege der SARS-Effekt dagegen in Ländern wie Thailand, Malaysia und Indonesien, wo die Reisebranche zu den Hauptzweigen der Wirtschaft zähle.

Pessimisten halten dagegen, dass nicht nur Touristen, sondern auch Manager reisen. Schon nach Wochen würden den Küstenfabriken die Aufträge ausgehen, wenn chinesische und ausländische Manager nicht mehr im Land umherreisen, um Kaufverträge zu schließen. Genau das aber geschehe jetzt. Viele Unternehmen, egal ob aus- oder inländische, hätten ihre Reisetätigkeit innerhalb Chinas bereits stark eingeschränkt. So liefen zahlreiche Joint Ventures auf Grund, weil sich die Partner nicht mehr träfen, um Entscheidungen zu fällen. „SARS unterbricht den wirtschaftlichen Alltag“, stellt Andy Xie, Chefökonom der US-Investment-Bank Morgan Stanley in Hongkong, fest. „Das erhöht die Risiken eines plötzlichen Wirtschaftseinbruchs.“