Sympathien für Triebtäter wecken

Sexualität und Split Screens: Roger Avary hat Bret Easton Ellis’ Roman „The Rules of Attraction“ schick verfilmt

Sehr sensibel, wie er beim Lesen ihrerLiebesbriefemasturbiert

Was die Aufklärungsgesellschaften angeht, war doch eigentlich alles klar: Man redet über Sex, um ihn nicht haben zu müssen. Nur an amerikanischen Colleges der Achtzigerjahre war das offenbar anders.

Im Nachfolger seines Debütromans „Less than zero“ beschreibt Bret Easton Ellis dieses merkwürdige Paralleluniversum, in dem neben den Drogen eben auch der Sex jederzeit verfügbar ist und so beherrschend wird, dass sich vor lauter Überdruss die Sinnfrage stellt. Was bleibt, wenn jede Stellung ausprobiert, die letzte Kommilitonin vernascht und der letzte Orgasmus vorgetäuscht ist? Die üblen Folgen des gelebten Hedonismus hat Ellis 1987 mit eiskaltem Skalpell bloßgelegt: eine Abstumpfung der Sinne, ein seelenloser Narzissmus, die Unfähigkeit zu lieben. Und irgendwas muss dran sein am Gerede vom zu vielen Sex. Er war dabei.

Gleichwohl ist es ein ödes Thema. Viel spannender ist die Frage, wie sich Ellis „moralischer Zynismus“, ausgedrückt in mehrdeutigen Selbstreflexionen höchst unzuverlässiger Erzähler, in einen Film packen lässt. Im Falle von „Rules of Attraction“ heißt das: Man muss Sympathien wecken für diese studentischen Triebtäter, deren oberflächlichen Lifestyle man nichtsdestoweniger genüsslich ausschlachtet. Da helfen am besten gute Darsteller mit netten Gesichtern. James van der Beek zum Beispiel. Im nihilistischen Sexgott Sean sieht man immer auch den sensiblen Titelhelden der TV-Serie „Dawsons Creek“. Man nimmt es ihm ab, dass ihn die keusche Außenseiterin Lauren (Shannyn Sossamon) ernsthaft irritiert. Gerade wenn er beim Lesen ihrer Liebesbriefe masturbiert. Sehr süß auch der Schönling Paul (Ian Somerhalder), der sich in seiner bisexuellen Probierphase erfolglos an Sean ranmacht. Doch, der Film ist ein Hingucker.

Nur verrät schon die erste Szene von „Rules of Attraction“ einiges über die Unentschlossenheit, mit der Regisseur Roger Avary vorgeht. Sturzbetrunken lässt sich Lauren auf der jährlichen „Dress to get screwed“-Party von einem hübschen Jungen verführen. Und dann wird’s eklig. Sie erwacht unter den Stößen eines pickeligen Typen, der sich noch dazu auf sie übergibt, während der Schwarm mit der Digitalkamera draufhält. Doch schon spult Avary zurück, um den Vorlauf zum bösen Ende deutlich milder zu gestalten. Es folgen hippe Split Screens, Freeze Frames mit eingeblendeten Namen, Zeitraffererzählungen, und man fragt sich, ob Avary das Thema selbst zu öde fand.

Man stellt auch fest, dass Mary Harron mit ihrer Verfilmung von „American Psycho“ die Latte ziemlich hoch gelegt hat. Horror raus, Satire rein: Eine derart simple wie legitime Reduktion ist Avary nicht eingefallen. Aus Respekt vor dem Text greift er zu jeder Menge Stilmittel, die laut „Literatur“ rufen. Dabei spaltet er nicht nur bei Ellis unvermeidlich die Geschmäcker. Sondern auch die Generationen. Wer „Trainspotting“ mit der Muttermilch aufgesogen hat, wird die Freeze Frames schwerlich hip finden. Das ist ein bisschen wenig für Avary, der als Koautor von „Pulp Fiction“ und Regisseur des Bankraub-Splatters „Killing Zoe“ maßgeblich an der zentralen Gewaltdebatte der Neunziger beteiligt war. So einer, sollte man meinen, wechselt die Körpersäfte nach Belieben. Doch die letzten zehn Jahre hat sich das verschwundene Wunderkind eben mit Musikclips beschäftigt. Und so verwundert es auch nicht, dass Avary den „Pulp Fiction“-Trick mit dem vorgezogenen Ende quasi bei sich selbst klaut. Weiterentwicklung? Less than zero.

Trotzdem muss einem wegen der von Avary selbst geplanten „Glamorama“-Adaption nicht Angst und Bange werden. Über weite Strecken ist „Rules of Attraction“ ein überdurchschnittlicher Teenie-Film, eher Highschool als College, aber mit Aussicht auf den glorreichen Hochschulabschluss. In einigen sehr schönen Szenen versucht der abgebrühte Sean, sich aus Liebeskummer umzubringen. Er ist übrigens der Bruder des Börsenschlächters Patrick Bateman aus „American Psycho“. Der hätte sich mal ein Beispiel nehmen können.

PHILIPP BÜHLER

„Die Regeln des Spiels – Rules of Attraction“. Regie: Roger Avary. Mit James van der Beek, Ian Somerhalder, Shannyn Sossamon u. a. USA/Deutschland 2002, 110 Minuten