Senators Rumpelkammer

Keine Intimitäten, bitte! Wenn der Überbau das Stauraumproblem gelöst hat, können wir sicher sein: Wir sind im deutschen Trendschlafzimmer der Gegenwart gelandet

von WIEBKE HOLLERSEN

Was ist eigentlich aus dem Schlafzimmerblick geworden? Irgendwie scheint das Wort aus der Mode gekommen zu sein. In einer keineswegs repräsentativen Umfrage boten junge Leute als Bedeutungen an, einen Schlafzimmerblick trage, wer immer verpennt herumlaufe, oder jemand, mit dem als Gesprächspartner und überhaupt wenig anzufangen sei, ein Langweiler eben. Eine Frau, die lasziv die Lider hängen lässt und darunter funkelt und lockt, erwähnte niemand; wahrscheinlich ist das Wort lasziv aber schon genauso unbekannt.

Es muss Zeiten gegeben haben, die so prüde waren, dass bereits schon das Wort Schlafzimmer verrucht klang, nach Geheimnis und Laster. Kinder durften das Elternschlafzimmer nicht betreten oder nur mit elterlichem Passierschein. Aus diesen Zeiten muss auch der Brauch kommen, fremden Besuchern im Haus zwar den Bastelkeller, das Altglas auf dem Balkon und das chaotische Kinderzimmer, unter keinen Umständen aber das Schlafzimmer der Erwachsenen zu zeigen. „Ach ja, und hier ist das Schlafzimmer“, heißt es dann, Tür spaltweit auf, Tür zu. Obwohl es dahinter ohnehin meist dunkel und kühl ist und nach frischer Wäsche riecht statt nach Geheimnis und Laster.

Der klassische Moment, in dem man doch ein fremdes Schlafzimmer betreten darf – sogar in Straßenschuhen! –, kommt, wenn bei einer Party die Garderobe übergequollen ist. Dann dürfen Jacken aufs Bett gelegt werden. Wer seine Sachen später unter dem Berg fremder Kleidung hervorkramt, tut dies eilig; wie sähe es aus, sich zu lange hier aufzuhalten?

Die meisten Leute verbergen ihr Schlafgemach immer noch ebenso gern vor fremden Blicken, wie sie in andere hineinspähen. Dabei müssten sie eigentlich feststellen, dass dort nicht viel zu sehen ist. Private Webcams lockten Anfang der Neunzigerjahre zu solchen Einblicken – und zeigten letzlich nur, dass zerwühlte Betten in aller Welt gleich aussehen. Zur Sache ging es nur bei kommerziellen Betreibern und nach Eingabe der Kreditkartennummer. Auch die erste Staffel der Reality-Show Big Brother enttäuschte in dieser Hinsicht: Viele Diskussionen am Couchtisch waren zu ertragen, bis ein paar spärlich ausgeleuchtete Nachtaufnahmen aus den Schlafräumen eigentlich nichts sehen ließen.

Angeregt von Webcams und Reality-TV, lud der Schweizer Künstler Marc Mouci im Jahr 2000 Fremde ein, eine Nacht gemeinsam mit ihm in seinem Schlafzimmer zu verbringen. Er wollte wissen, was hinter der online zur Schau gestellten Intimität steckte. Zwanzig Freiwillige meldeten sich auf seine Einladung, mit ihm zu Abend zu essen und bei Sympathie sein Bett zu teilen – Sex strikt und per Vertrag ausgeschlossen. Als so genannte Internetperformance ließ Mouci das Bett die ganze Nacht fotografieren und stellte die Bilder, zusammen mit Protokollen der Gäste, später auf eine Webseite (www.centreimage.ch/inbedwithme).

In fünf Monaten mit allzeit geöffneter Schlafzimmertür spürte Mouci seine Intimsphäre schwinden und begann, sich heimlich zu freuen, wenn niemand zum Schlafen kam. Wenn doch jemand bei ihm übernachtete, half ihm sein Körper, Abstand zu wahren: „Früher habe ich ungern mit anderen im selben Zimmer geschlafen, ich konnte nicht einschlafen, fühlte mich beobachtet und gestresst. Bei der Performance hatte ich damit keine Mühe. Kaum war ich im Bett, war ich unheimlich müde und schlief ein.“ Auch eine Art, der Intimität zu entfliehen, sagt er.

Auch eine Studie der Messe Frankfurt versuchte Anfang des Jahres, Licht ins Halbdunkel der heimischen Schlafstätten zu bringen. Von wegen Eintönigkeit hinter geschlossenen Türen! In ganze elf Schlafzimmertypen zerfalle die Republik; am häufigsten seien „Aufgeräumte“ und „Mustermanns“. „Spartaner“ hingegen gebe es nur selten. Schlecht nur, dass Genaueres nicht ohne die Zahlung eines nicht unerheblichen Eurobetrags an die Herausgeber der Studie zu erfahren ist. Also auf zur Trendkontrolle in die Tempel der Schlafzimmerkultur.

In der Berliner Hauptfiliale von Möbel Hübner füllen „Schlafraumeinrichtungen“ ein ganzes Stockwerk. Elf Typen allerdings sind hier mitnichten auszumachen. Eigentlich nur einer. In Möbelhändlersprache ist ein Schlafzimmer nicht etwa ein Raum, sondern eine aufeinander abgestimmte Serie von Einrichtungsgegenständen, mit denen dieser Raum möglichst flächendeckend ausgekleidet werden sollte. Zentrales Möbel ist einerseits natürlich das Doppelbett und andererseits ein möglichst riesenhaftes Schranksystem.

Die Paare, die am Samstag zum Schlafzimmerkauf ins Möbelhaus gekommen sind, liegen nicht etwa auf den Betten Probe, sondern rechnen Wohnungsmaße in Schrankabteile um. Es locken „Endlosschranksysteme“ und „Stauraumwunder“ mit normalen sowie Dreh-, Falt- und Schiebetüren, verspiegelt, aus Naturholz oder Holzimitat, in Klinischweiß, Achtzigerjahresilbergrau oder Wuchtigschwarz.

Auf einem Katalogtitel sitzt eine junge Frau vor Bergen von Handtüchern auf dem Bett und stützt den Kopf auf ihre geballten Fäuste – klarer Fall von Stauraumproblem. Eine Seite weiter besitzt sie „Senator – das kreative und funktionale Überbauschlafzimmer für mehr Freiraum“. Die Frau trägt jetzt einen geschlitzten Rock und lässt die Hände locker von der Lehne eines cremefarbenen Sessels baumeln, hinter ihr hat der Überbau das Stauraumproblem gelöst. Wer so etwas noch nie gesehen hat, schiebe in Gedanken ein Doppelbett bis zum Anschlag in eine Schrankwand, und zwar so, dass das Kopfteil des Bettes etwa einen halben Meter tief in ihr stecken bleibt. Einen knappen Meter über den Kopfkissen kann dann schon das erste Regalbrett oder ein verglastes Vitrinenteil hängen. Ältere Deutsche überkommen bei solchen Arrangements ungute Erinnerungen an die Noteinquartierungen der Nachkriegszeit.

„Was in Ihr Schlafzimmer passt, brauchen Sie nicht in anderen Räumen zu verstecken“, wirbt der Katalog – und man erwischt sich beim Gedanken an das längst nicht mehr im Sortiment befindliche praktische Klappbett aus alten Louis-de-Funès-Komödien, mit dem beim immer absolut überraschenden Auftritt des Gatten im Eheschlafzimmer die Gattin flugs das zerwühlte Bett inklusive Liebhaber in die Schrankwand sausen lassen konnte. Aber zum einen war das sowieso alles frei erfunden, und zum anderen haben sich die Stauraumprobleme in schlafzimmerblickfreien Zeiten wohl auch gewandelt.

Ein Komplettschlafzimmer zu erwerben und in einen Wohnraum einzupassen ist eine Entscheidung, die sich nicht leicht rückgängig machen lässt. Eine Ehe mag sich lösen lassen, ein Überbauschlafzimmer bleibt zusammen. Und wenn denn wirklich niemand mehr in ihm schlafen mag, findet es sich eines Tages so komplett, wie es einst angeschafft wurde, im Internetauktionshaus eBay wieder.

Im Moment gibt es dort etwa vierhundert Schlafzimmer im Angebot. Kleine traurige Digitalfotos erzählen, was vom gemeinsamen Schlaftraum geblieben ist. Auf einem Doppelbett liegen nur noch auf der rechten Hälfte Kissen und Decke, der linke Schlafplatz ist verwaist, doch die Abwesenheit des Bettpartners hat nichts an der alten Aufteilung geändert. Ein anderes, lackschwarzes Modell mit „drei Kristallspiegeltüren“ ist nach fünf Jahren abzugeben, „da uns unsere Kinder aus dem Schlafzimmer verdrängen“. Auch ein Schlafzimmer „Anno 1950“ gibt es, „mit Lattenrost und drei Matratzenteilen“. Als es vor einem halben Jahrhundert eingerichtet wurde, kicherten junge Leute sicher noch hinter vorgehaltener Hand, wenn die Rede von einem Schlafzimmerblick war.

Aber damals hatte auch noch niemand einen Computer neben dem Bett stehen. Jeder zehnte Deutsche würde im Schlafzimmer arbeiten, verriet die Typenstudie der Messe Frankfurt noch gebührenfrei – was dazu passt, dass aus dem Schlafzimmer offenbar für viele der Raum geworden ist, in den sich alles Mögliche abschieben lässt, was anderswo stört, Bügelbretter, Staubsauger, Hometrainer.

Ein guter Teil der erwachsenen Deutschen stört sich nicht daran, sein Bett in einer besseren Abstellkammer stehen zu haben, als sei die Zeit, die sie hier verbringen, auch eine Art Gerümpel: einschlafen, aufwachen, fertig.

WIEBKE HOLLERSEN, 28, ist freie Journalistin und lebt in einer Berliner Zweiraumwohnung