Nur ein Felsbrocken löst sich

Keine Katharsis: Der indische Spielfilm „Uttara“ von Buddhadeb Dasgupta erzählt von der Entstehung fundamentalistischer Gewalt, von repressiven Machtstrukturen und von der Passivität sich unbetroffen wähnender gesellschaftlicher Gruppen

von GUDRUN HOLZ

Es wird auch getanzt in Buddhadeb Dasguptas bildstarkem Film „Uttara“. Von Ekstase à la Bollywood fehlt aber jede Spur. Anstelle des sinnlich forcierten Treibens der Produkte aus Bombays Filmfactorys zieht hier eine pilgernde Gauklertruppe mit übergroßen, expressiven Tier- und Fabelmasken wiederkehrend durchs Bild und untermalt die Struktur des Films wie ein Refrain. Diese Tanztruppe freundlicher Kulturschaffender, wie sie in Dasguptas bengalischer Gegend seiner Kindheit noch immer durch die Lande zieht, fungiert zunächst als Chor und schließlich sogar als Schutzzone für einen kleinen Flüchtling, der in einen religiösen Machtkonflikt gerät. Der verwaiste Mathew, eigentlich Kind hinduistischer Eltern, lebt bei einem Pfarrer, der von einigen Hindus im nahen Dorf angefeindet wird.

Erst nach ungefähr einem Drittel des Films tritt die titelgebende Heldin auf. Uttara, eine scheinbar verträumte junge Frau (Java Seyal), wird verheiratet. Im neuen Zuhause angekommen, ergibt die Ehe für den Gatten Balaram (Shankar Chakraborty) eine Störung seiner Gewohnheiten. Als Schrankenwärter an einem abgelegenen Bahndamm in den Weiten der bengalischen Provinz gilt seine ganze Hingabe dem tägliche Ringkampf mit seinem Freund und Kollegen Nemai (Tapas Pal). Wie weit dieser sportliche Fanatismus geht, zeigt der dramatische Höhepunkt des Films, der zugleich das Grundthema zuspitzt, nämlich Entstehungsmotive fundamentalistischer Gewalt und die Passivität sich unbetroffen wähnender gesellschaftlicher Gruppen. Die Motive der Ringerei jedenfalls verschieben sich erst einmal – war es in der Abgeschiedenheit des Bahnwärter-Areals ein inniges Ritual gegenseitigen Massierens gewesen, so gelten fortan andere Spielregeln. Erst ist es Eifersucht, schließlich wird es zum heftigen Kampf um Uttara selbst.

Dasguptas poetische Parabel kontrastiert mit dem lokalen Setting. Dorf, Leute, und eine Landschaft von Kiarostami’schen Dimensionen bilden einen ländlich-natürlichen Hintergrund. Aber Dasguptas, seit den Sechzigern Regisseur von über zwanzig Filmen und Autor von Gedichten und Romanen, hat anderes vor. Mit weniger als der übrigen Anzahl von Bildern pro Filmminute und der daraus resultierenden Verlangsamung vertieft er die Atmosphäre, so dass seine Protagonisten wie traumwandlerisch erscheinen.

In dieser Landschaft, die als Bühne und Gleichnisort fungiert, lässt er unter anderem eine Gesellschaft von Kleinwüchsigen, die per Bus unterwegs sind und im Märchen bekanntlich Zwerge heißen, auftreten. Nette Leute, die später im Film ausziehen, um eine utopistische, egalitäre Dorfkommune zu gründen. Ein poetisches, leicht didaktisches Märchen also, aber eines, in dem die Minorität der kleinen Leute ebenso wie der andersgläubige Pfarrer von einem gleichgültigen Mob bedroht werden, der stellvertretend für eine ignorante Mehrheitgesellschaft steht. Nach dem Start des Films sah sich Dasgupteas, selbst Hindu, mit massiven Drohungen konfrontiert. „Drei scheußliche Artikel erschienen, die sagten, mein Film sei voller Lügen. Nur: Jede dieser Zeitungen berichtet fast täglich von Ereignissen der Art, wie sie in meinem Film vorkommen.“ Nicht allein der Fundamentalismus sei das Problem, es seien die repressiven Machtstrukturen, die auch in Indien bis in Regierungsnähe reichten. „Sie wollen immer nahe an der Macht sein, die Macht selbst innehaben oder im Schutz der Macht agieren. Wenn dies geschieht, beginnt für die Gesellschaft der Albtraum.“

Dasgupta präsentiert ein Lehrstück, in dem die Rollen der Guten und der Bösen klar vergeben sind. Trotz der Gewalttaten bleibt das Ganze seltsam verhalten. Katharsis nach dem Fall wird nicht geboten. Nur ein Felsbrocken löst sich.

„Uttara“. Regie: Buddhadeb Dasgupta. Mit Jaya Seal, Tapas Pal u. a. Indien 2000, 99 Min. Termine s. Programm