Reichsapfel aus kontrolliertem Anbau

100 Kleisterwerke (3): Renommierte Bremer Kunsthistoriker deuten Plakate des Bürgerschaftswahlkampfes. Heute: Dr. Rainer Stamm, Direktor der Kunstsammlungen Böttcherstraße über den Meister des Grünen Plakates

Ein Schelm, wer nur an Bio-Obst denkt, wenn der Apfel im Bild ist. Nicht nur über den merkwürdigen Schwebezustand der prallen Frucht lohnt es sich nachzudenken, sondern auch über die grün-rote Farbe und – zunächst – über den Apfel an sich.

In fast zweitausend Jahren abendländischer Kunst ist er fest mit dem Sündenfall verbunden: Eva, verführt von der Schlange, reichte ihn einst an Adam weiter; das war bekanntlich vor unserer Zeit, im Alten Testament. Nach christlicher Bildauffassung wird der Sündenfall durch die Geburt Christi, der den „neuen Adam“ repräsentiert, rückgängig gemacht: Als „neue Eva“ reicht Maria den Apfel dem Christuskind, das ohne Schuld ist. In seiner Hand wird die Paradiesfrucht zum Reichsapfel, zum Symbol weltlicher Macht und des Anspruchs auf Weltherrschaft. Als „salvator mundi“, Retter der Welt, trägt Christus – und nach ihm die abendländischen Kaiser – den Reichsapfel als Zeichen der Macht. Was also will uns der Meister des Grünen Plakates sagen? Dass der Apfel, das Herrschaftssymbol, in die Hände der Portraitierten fällt, die uns als Spitzenkandidatin Karo Linnert vorgestellt wird?

Und wo eigentlich befindet sich der Apfel im Raum: Schwebt er auf unbestimmte Zeit in der Luft oder wurde er – leichtfertig und behende – in die Luft geworfen, um nach Sekundenbruchteilen wieder in der Hand der Werfenden zu landen? Vielleicht will uns der Künstler suggerieren, dass der Fall des Apfels in die Hand der ihn Erwartenden durch die Gesetze der Schwerkraft gesichert ist. Doch die Frage bleibt offen, wie die ausgestreckte Hand der Portraitierten.

Fragen stellen sich auch hinsichtlich der Farbe des Apfels. Selbstverständlich, denken wir zunächst: grün-rot - und fühlen uns in unserem Weltwissen über die Dinge bestätigt. Und doch: Ist der Paradiesapfel rot und der Reichsapfel golden, so würde die Signatur links unten vermuten lassen, der hiesige Apfel müsse gänzlich grün sein. Die Unterseite der schwebenden Frucht trägt indes nicht die Farbe der Hoffnung, sondern ist rötlich gefärbt, und so vereint die magische Frucht Macht und Hoffnung, Geworfensein und Newtons Gesetz, Rot und Grün, Natur und linke Utopie.

Die Inschrift des Bildes erklärt unverblümt, es gehe um eine neue Koalition, die die Polaritäten miteinander verbindet; doch die grün-rote Frucht steht zugleich für die Revision des Sündenfalls (der alten Koalition?) und für die Hoffnung der Portraitierten, das Herrschaftszeichen möge ihr alsbald wieder in die Hand fallen. Honi soit qui „malum“ pense.

Rainer Stamm