„Zumindest flogen keine Friedenstauben“

Die Festnahme des Demonstrationsbeobachters Wolf-Dieter Narr während der Krawalle am 1. Mai 2001 war ein Missverständnis, befand die Richterin. Das Amtsgericht Tiergarten sprach den angeklagten Polizisten frei

Wie ein „lascher Sack“ habe er sich forttragen lassen, sagte Narr vor Gericht

Der Vorwurf wog schwer: Verfolgung Unschuldiger. Mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe und Dienstentzug hätten dem 29-jährigen Polizisten gedroht. „Entweder Freispruch oder schuldig“, sagte die Richterin im Saal 672 des Amtsgerichts Tiergarten bei der Urteilsverkündung. Eine Einstellung als Kompromiss sei in einem solchen Fall nicht möglich – zu gravierend seien Falschaussagen der Polizei. Es kam zum Freispruch.

Der Tatzeitpunkt liegt bereits zwei Jahre zurück. Damals, am 1. Mai, kam es am späten Nachmittag an der Ecke Adalbert-/Oranienstraße in Kreuzberg 36 zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten. Damals galt unter dem CDU-Innensenator Eckart Werthebach am 1. Mai noch die harte Linie: ein umfangreiches Demonstrationsverbot in ganz Kreuzberg 36. Und trotzdem waren mehrere tausend Menschen auf den Straßen unterwegs, um zu Kundgebungen auf größere Plätze zu gelangen. Der Hochschullehrer Wolf-Dieter Narr hielt sich mitten in diesem Getummel als Demonstrationsbeobachter auf. Narr ist seit 1981 für das Kölner Komitee für Grundrechte und Demokratie bei Demonstrationen dabei und beobachtet vor allem das Polizeiverhalten.

Es habe „ein bisschen Zoff“ gegeben, beurteilte Narr die Lage an diesem Nachmittag. Die Polizisten sprachen von schwerer Randale mit herumfliegenden Flaschen und vollen Bierdosen. Der Verteidiger brachte es auf den Punkt: „Zumindest flogen da keine Friedenstauben.“ In dieser Situation habe nach Narrs Angaben plötzlich ein Polizist ihn von hinten gepackt, unsanft zu Boden gerissen und ihn gemeinsam mit einem Kollegen zu einem Polizeitransporter gezerrt – dabei verlor er seine Brille und ein Hörgerät. Zur Frage, wieso es in dieser Situation zu polizeilichen Handgreiflichkeiten gekommen war, antwortete der angeklagte Polizist, dass er einen Schlag gegen den Helm und einen Griff an die Schulter verspürt habe. Als er sich umdrehte, habe der Professor mit erhobener Hand vor ihm gestanden. „Ich ging subjektiv davon aus, dass er es war, und brachte ihn zu Boden“, sagte der Polizist aus.

Trotz der ungerechtfertigten Festnahme erstattete der Professor keine Anzeige. „Das kann passieren“, gab Narr zu. Stattdessen zeigte der Polizist ihn an: Narr habe bei der Festnahme „wild um sich geschlagen“ und später zu den Polizisten gesagt: „Ihr seid ja alle dämlich.“ Narr bestreitet die Vorwürfe. „Ich habe weder Gewalt ausgeübt noch beleidigende Äußerungen gemacht“, betonte er. Dies sei ihm fremd, so etwas mache er nicht. Während der Polizist von schwerem Widerstand gegen die Staatsgewalt sprach, sagte Narr, dass er sich wie „ein lascher Sack“ von den Beamten wegtragen ließ.

Auch der Kollege des angeklagten Polizisten relativierte den Vorwurf und sagte, der Professor habe keinen ernst zu nehmenden Widerstand geleistet, als er fortgetragen wurde. Und auch auf einem Polizei-Videoband der Demonstration, das sich die Richterin vorspielen ließ, war nicht zu erkennen, dass der am Boden liegende Professor sich tatsächlich aktiv zur Wehr setzte. Von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte oder Beleidigung konnte also keine Rede sein. Das entsprechende Ermittlungsverfahren war ohnehin vor einiger Zeit eingestellt worden.

Der Staatsanwalt befand zwar in seinem Pläydoyer, der Polizist habe eindeutig irrtümlich gegenüber Narr gehandelt, er konnte aber eine gezielte Absicht, den Professor anzuzeigen, nicht erkennen. Das reiche zu einer Verurteilung zum Vorwurf der Verfolgung Unschuldiger nicht aus. Dem schloss sich der Verteidiger des Polizisten weitgehend an. Die Richterin ging sogar noch weiter. Wegen der gewälttätigen Demonstration, die jedes Jahr am 1. Mai in Kreuzberg so üblich sind, sei die Situation für den Polizisten von Stress und Konfrontation geprägt, befand sie. Der angeklagte Polizist habe die ganze Situation schlicht und einfach missverstanden. Es erging Freispruch. FELIX LEE