Der Adoptiv-Vater Staat

Strafbares Kino: Ab heute läuft „Hejar“ von Handan Ipekçi auch in Bremen. In der Türkei ist der Film Gegenstand eines Gerichtsverfahrens – wegen des Kurdenproblems

Gegen die Regisseurin Handan Ipekçi läuft seit Januar 2003 ein Gerichtsverfahren. Die türkische Staatsanwaltschaft fordert sechs Jahre Gefängnis für das Filmtalent aus Istanbul. Der Grund dafür ist „Hejar“. Ab heute ist der auf mehreren internationalen Festivals ausgezeichnete Film auch im Cinema zu sehen.

Ohne moralische Appelle und ohne politische Erklärungen thematisiert Ipekçi mit einer einfachen Geschichte das wohl wichtigste Problem der Türkei – die Kurdenfrage. Hejar, ein fünfjähriges Mädchen, hat ihre Eltern bei einer Auseinandersetzung zwischen PKK-Guerilla und türkischem Militär verloren. Ihre Cousine nimmt das Mädchen auf – obwohl sie in ihrer Wohnung politische Aktivisten verbirgt. Bald führt das zu dramatischen Verwicklungen: Die Polizei stürmt das Versteck und tötet alle – außer Hejar. Sie wird übersehen. Der Nachbar Rifat Bey nimmt die Waise bei sich auf.

Rifat Bey ist ein pensionierter Richter, genauso alt wie die türkische Republik – der Adoptiv-Vater Staat. Für ihn gibt es keine andere Volksgruppen in der Türkei außer den Türken – und auch keine anderen Sprachen. Doch Hejar versteht nur Kurdisch. Sakine, die Haushälterin des Richters, wird in diesem Konflikt vermitteln. Dass auch sie Kurdin ist, hatte Bey nicht gewusst. Als er eines Abends die weinende Hejar nicht zu beruhigen weiß, ruft er Sakine an. Er fragt sie, was „bitte hör auf zu weinen“ auf Kurdisch heißt. Von da an lernt er Kurdisch. Und die kleine Hejar spricht ihre ersten türkischen Worte. Und Misstrauen und Angst verwandeln sich in Zuneigung. Ein Märchen, ja, und klassisches Erzählkino: So schön, dass es wahr sein müsste.

Orhan Çalisir/bes