Ein Arzt operiert unter Schmerzen

Die meisten Ärzte verzichteten auf eine Klage gegen ihre Klinik. Kneifen, anschwärzen, Maul halten

von JAN ROSENKRANZ

Er sagt, er kann sich vorstellen, wie das Dritte Reich funktioniert hat. Er sagt, er kann sich vorstellen, wie Schweigen ins Unheil führt, wie Denunzianten ihr Unwesen treiben und die Macht der einen die anderen ohnmächtig macht. Er sagt, seit drei Jahren kann er das. Denn seit drei Jahren klagt Norbert Jäger, Assistenzarzt der Chirurgie, vor diversen Gerichten gegen das deutsche Gesundheitswesen – gegen seinen Arbeitgeber, das Städtische Krankenhaus Kiel, mithin gegen die Stadt, in der er lebt.

Es geht um Arbeitszeiten, ein deutsches Gesetz, um bis zu 27.000 neue Jobs und mehr Sicherheit für Patienten. Es geht um eine Frage, von der viele sagen, dass sie der Europäische Gerichtshof schon vor drei Jahren in einem Fall aus Spanien beantwortet hat, und die zudem verblüffend einfach klingt: Ist der Bereitschaftsdienst von Krankenhausärzten Arbeitszeit oder Ruhezeit?

Das kleine Zweifamilienhaus am Rande Kiels ist aus Klinkern erbaut. Im hellen Wohnzimmer zwischen Sessel und Couchtisch kniet Norbert Jäger auf dem Sisalteppich und gräbt sich durch diverse Ordner hinduch. Drei Jahre Schriftverkehr machen Ordner schwanger. Drei Jahre Schriftverkehr macht die Haare grau meliert. Der Doktor ist 43 Jahre alt und trägt ein blaues Kurzarmhemd, hochgekrempelte Jeans und sogar in der Freizeit weiße Arztsocken in Gesundheitslatschen. Freizeit kommt in Norbert Jägers Leben nicht allzu häufig vor. Als Stationsarzt in der Chirurgie hat er zwar nur eine Dreiviertelstelle, aber zusätzlich sechs Bereitschaftsdienste monatlich – das macht im Schnitt 60 Arbeitsstunden pro Woche.

„Früher hieß Bereitschaft, dass man wirklich nur im Notfall ranmusste. Da konnten wir sogar nebenher grillen. Heute schieben wir einen ganz normalen Dienst. Wir arbeiten, wir ruhen nicht“, sagt Jäger und gerät ein bisschen in Fahrt. Dann fädelt er die Worte immer schneller aneinander, fädelt sie zu einer Kette, die auch nach über 20 Jahren Kiel sanft im rheinischen Singsang schwingt, und fädelt sie länger und fädelt von Arbeitszeitgesetz zu Erstinstanz und landet doch wieder beim Bereitschaftsdienst, der in Deutschland noch immer als Ruhezeit gilt. Solange nur höchstens die Hälfte der Bereitschaftszeit tatsächlich gearbeitet wird, sind viele Ärzte völlig legal bis zu 36 Stunden im Dienst – am Stück.

Das sei für alle eine unheimliche Belastung, sagt Jäger. Doch statt sich darüber öffentlich zu beklagen, jammern die meisten Ärzte lieber heimlich. „In diesem Berufstand herrscht noch immer ein merkwürdiges Omnipotenzdenken: Wir sind niemals erschöpft und immer topfit“, hat er festgestellt. Der Arzt – allmächtiger Herrscher über den Biorhythmus. Herrscher klagen nicht, Herrscher beißen die Zähne zusammen. Unter Herrschern gilt einer wie Jäger schnell als Querulant.

„Ja, viele denken das“, sagt Nobert Jäger. Aber irgendwer musste doch anfangen. Irgendwer musste doch klagen, wenn sich sonst keiner traut. Irgendeiner der Ärzte brauchte den Mut. Kein bisschen Querulant? „Ich bin überzeugter Christ.“ Er engagiert sich in der örtlichen Gemeinde, ist Mitglied der CDU und hat als Entwicklungshelfer drei Jahre lang im südafrikanischen Lesotho gearbeitet. „Ich sag jetzt mal: das Albert-Schweitzer-Syndrom. Man könnte es auch Helfersyndrom nennen. Das hab ich mit ziemlicher Sicherheit.“

Vielleicht liegt es an seiner Erziehung. „Katholisch, aber nicht zu katholisch.“ Vielleicht liegt es am United World College in Kanada, wo er die letzten beiden Schuljahre verbrachte und soziales Engagement zum Programm gehört. „Da habe ich beschlossen, dass ich Menschen helfen will. Wir haben uns den ‚Weltverbesserer-Verein‘ genannt.“

Verbessern, das ist der rote Faden seines Lebens. Und so ist er aktiv in der Ärztekammer Schleswig-Holstein und im Interessenverband der Klinikärzte, dem Marburger Bund. Er ist sogar im Vorstand des Landesverbandes gewesen. Gewesen. Er ist es nicht mehr. Aber über diese Geschichte möchte er nicht gerne reden. Die Wunde schmerzt.

Jäger stapft die steile Holztreppe hinauf und kehrt zurück mit noch mehr Ordnern. Irgendwo muss dieses spanische Urteil abgeheftet sein. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu einer Klage der spanischen Ärztegewerkschaft Simap vom 3. Oktober 2000, Aktenzeichen C 303/98. Dieses Urteil, mit dem alles anfing. Unter Punkt 3 der Begründung heißt es: „Der Bereitschaftsdienst, den die Ärzte der Teams zur medizinischen Grundversorgung in Form persönlicher Anwesenheit in der Gesundheitseinrichtung leisten, ist insgesamt als Arbeitszeit […] anzusehen.“

„Mit diesem Urteil hatten wir endlich etwas Greifbares in der Hand“, sagt Jäger. Mit diesem Urteil im Rücken schrieb er zusammen mit 30 Kollegen der Krankenhausleitung einen Brief. Und die antwortete freundlich, dass die Bundesregierung erst einmal prüfen werde, ob das Urteil überhaupt für Deutschland gilt, und dass man so lange abwarten wolle. Dann kam nichts mehr, und die Mediziner sagten sich: Dann müssen wir wohl klagen. „Wir wollten das gar nicht. Wir kamen immer gut miteinander aus. Aber die konnten gar nicht anders, weil das deutsche Gesetz noch immer besagt: Bereitschaftsdienst ist Ruhezeit“, erklärt Jäger. Also hofften sie, mit dem richtigen Druck ließe sich etwas bewegen. Wenn einer klagt, dann klagen alle, dann folgt die Lawine. Er hatte es so gehofft.

Doch es donnert keine Lawine, es schwappt keine Welle, es rieselt und tröpfelt allenfalls. Da ist sie wieder, die Wunde, die er nicht wieder aufreißen will. Die Geschichte dazu ist veröffentlicht im Ärzteblatt: Als ruchbar wird, dass ein Kollege aus der Chirurgie als Zeuge der Gegenseite aussagt, verzichten die meisten Mitstreiter auf die Klage. Bloß nicht den Streit auf die Stationen tragen! Der Zeuge sitzt wie Jäger im Landesvorstand des Marburger Bundes. Das hat er bis heute nicht verwunden. Es ist eine der Episoden in dieser Geschichte, die ihn ans Dritte Reich denken ließ. Kneifen, anschwärzen, Maul halten.

„Früher hieß Bereitschaft, dass man nur im Notfall ranmuss“, sagt Jäger. „Wir konnten nebenher grillen“

In einer anderen norddeutschen Klinik haben es zehn Ärzte genauso versucht, haben der Klinikleitung geschrieben und gehofft. Aber statt einer freundlichen Antwort hat es eine Krisensitzung gegeben und ein Ultimatum. Zwei Tage, um den Brief zu widerrufen, sonst werden fünf Verträge nicht verlängert. Jäger hat eine Festanstellung, eine „Lebensanstellung“, wie er sagt. Es gefällt ihm in Kiel. Muss es auch, denn so leicht wird er wohl nichts Neues finden. Man kennt ihn inzwischen bundesweit – als vermeintlichen Querulanten.

Ja, er hat die Festanstellung. Ohne die hätte ihm seine Frau einen Vogel gezeigt bei seiner Idee, die Klinik zu verklagen. Sie ist auch Ärztin, in einer Praxis. Sie unterstützt ihn, sicher, solange das Thema nicht zu sehr die Familie belastet. Jäger versucht, so gut wie eben möglich, zu trennen. Doch wenn die beiden Töchter, 11 und 13, pubertieren, im Garten Metastasen wuchern und die Waschmaschine laboriert, wünscht sich auch seine Frau, so glaubt er, dass die Sache bald ein Ende hat. Noch vor dem Sommer wollen die europäischen Richter entscheiden. Bekommt Jäger Recht, müssten in deutschen Krankenhäusern bis zu 25.000 neue Ärzte für 1,75 Milliarden Euro eingestellt werden. Norbert Jäger, der Arzt, den Arbeitlose lieben. Norbert Jäger, das K. o. der Kassen.

„Das soll jetzt also das Schreckgespenst für die Bundesregierung sein? Wenn in einem Land mit 4,7 Millionen Arbeitslosen tausende hoch qualifizierte Jobs entstehen? Sind wir schon soweit?“, fragt Jäger fassungslos. Die ganze Aufregung über die Kosten kann er überhaupt nicht verstehen. „Das gesamte Gesundheitssystem muss doch sowieso komplett reformiert werden.“ Und mit einer vernünftigen Vorsorgepolitik ließe sich Geld in der Behandlung sparen. Viel Geld.

Der Marburger Bund trägt einen Teil der Gerichtskosten und unterstützt ihn öffentlich. Die meisten Ärzte trauen sich das nicht. Sie rufen nur an. Aus dem ganzen Land. Mach weiter, du bist unsere Hoffnung, nur nicht unterkriegen lassen, wir würden ja auch, wir können nur nicht. Das hilft, wenn einem Zweifel kommen.

Es gibt Studien, die besagen: Nach 24 schlaflosen Stunden reagiere man wie mit einer Promille Alkohol im Blut. Deshalb wurde eine Schwester vor Gericht auch schuldig gesprochen, weil sie nach überlangem Dienst auf dem Heimweg in einen Unfall verwickelt wurde, unverschuldet, aber übermüdet. „Ich darf also nicht mehr mit dem Auto nach Hause fahren, aber nach 20 Stunden Dienst noch operieren“, sagt Jäger. Die Lasten trägt der Arzt, die Folgen der Patient. Deswegen hat er diese Klage eingereicht. Es geht doch nicht allein um ihn. Es geht um tausende Ärzte, um Millionen Patienten und um das große Ganze, das Gesundheitssystem. Es geht um den roten Faden seines Lebens: Welt verbessern.