Wozu Recherche?

Die gefälschten Reportagen bei der „New York Times“ sind auch Zeichen einer Entwicklungim Journalismus, bei der Aktualität und Unterhaltung zu gleichberechtigten Kriterien werden

von STEFFEN GRIMBERG

In derselben Woche, in der die New York Times vier lange Seiten penibel auflistete, wo überall ihr Reporter Jayson Blair „häufige Akte journalistischen Betrugs“ begangen hatte, war an den besser sortierten Kiosken hierzulande noch die Mai-Ausgabe des Magazines zu haben: „Als ich Heidi zum erstenmal sah, glich sie einer schwarzhaarigen Farrah Fawcett auf Speed. Sommer 1993. Ihre Zähne waren gelb.“

Tom Kummer war wieder ganz nah dran, diesmal an der „Hollywood-Zuhälterin Heidi Fleiss“: „In der Abenddämmerung saß sie oft ganz stumm vor einer Stechpalme im Garten ihrer Zwei-Millionen-Dollar-Villa (…). Es gab dort zwei Swimmingpools, einer war abgelassen hinter dem Haus und voller Schutt und leeren UPS-Päckchen, und die Liegen waren mit leeren Spritzen übersät. Am gefüllten Pool war dagegen alles voller Leben.“ – Voller Leben, das waren auch Jayson Blairs Augenzeugenberichte aus Palestine, West Virginia. Von der Veranda der Familie Lynch, deren Tochter Jessica als Private Lynch in den Krieg im Irak gezogen und jetzt „missing in action“ war. Über die „Tabakfelder und Viehwiesen“ ließ Blair den Blick der Lynchs schweifen, über Landschaften, die es so dort gar nicht gab. Wozu auch: Blair saß in Brooklyn, New York, als er diese Zeilen schrieb.

Kummers Beitrag im Magazine ist nun von vornherein mit „Hollywood-Shortstory“ überschrieben. Im Süddeutsche Magazin war das noch anders: Dort hatte man seine Beiträge, wie bei der NYT die von Blair, dankbar für bare und klingende Münze genommen. Im Mai vor drei Jahren platzte die Blase.

Beide Begebenheiten mögen zunächst auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen spielen: Der afroamerikanische Jungreporter Blair war klassischer Journalist mit klarem „Nachrichtenauftrag“. Tom Kummer dagegen bekennender „Borderline“-Schreiber auf der Jagd nach dem Innenleben der Großen, Berühmten und Schönen, die sich ihm in – meist dann doch nicht im Wortsinne geführten – Interviews offenbarten.

Die Erfahrungen mit Blair und Kummer weisen auf eine Entwicklung hin: das langsame, aber stetige Verschwinden von Recherche und Überprüfung im Journalismus. Dass ein renommiertes Blatt wie die New York Times trotz vieler Warnungen im Fall Blair über Monate nicht einschritt, mag teilweise durch die „affirmative action“, die Förderung des zu einer Minderheit im überwiegend weißen Medienzirkus an der US-Ostküste zählenden Reporters zu erklären sein. Blair selbst berichtet jedenfalls im ersten Interview nach seinem Rauswurf von Rassismus in beide Richtungen und macht sich über die NYT lustig (Text unter www.observer.com) – auch das war bei Tom Kummer und seinen „Opfern“ in den Redaktionen der Fall.

Doch wenn nun eine 22-köpfige Kommission den Newsroom, die aktuelle Redaktion des Weltblattes überprüfen soll, steckt mehr dahinter: Das Rolling-News-Konzept, das Fernsehen, Radio und vor allem die Online-Dienste mit ihrem Dauernachrichtenangebot durchgesetzt haben, bringt die Presse in eine Schieflage: In Sachen Aktualität kann sie nicht mehr, will und muss aber offenbar mithalten. Gründlichkeit und Recherchetiefe, die allein die Presse bietet, kosten aber Zeit und Geld. Doch die zur Verfügung stehende Zeit wie das bereitgestellte Geld nehmen – in Deutschland noch durch die allgemeine Zeitungskrise beschleunigt – immer weiter ab. Der Griff zum Telefon gilt hier und da schon als Krönung von „Recherche“. Mehr ist nicht drin, und die Erkenntnis, dass selbst die professionellste Recherche nicht immer das erhoffte Ergebnis zeitigt, aber trotzdem in vollem Umfang berechtigt ist, schwindet.

Dafür setzt sich nicht nur bei Verlegern, sondern auch in manchen Redaktionen der Traum von einem neuen Lesertypus durch. Einer Zielgruppe, für die „intelligente Unterhaltung“ offenbar ausreicht und schräge Popularität zum Schlachtruf wird. Die eigentliche Nachricht und ihre Zusammenhänge blenden sich langsam aus. Was bleibt, ist die Verkörperung des Nichts. So hieß zufällig auch Tom Kummers Heidi-Fleiss-Geschichte.