Signifikanter VGE

Der Karlspreis für den europäischen Einigungsprozess wird am Donnerstag an Giscard d‘Estaing verliehen

Wenn Valéry Giscard d‘Estaing heute in Aachen den diesjährigen Karlspreis überreicht bekommt, dann ist gut möglich, dass manch einem Erinnerungsspuren marxistischer Kategorien in den Kopf schießen. Dass einem etwa das Wort von den „Charaktermasken“ in den Sinn kommt, die, was immer sie im Einzelnen sein oder sich selber dünken mögen, in erster Linie „Repräsentanten“ sind – Repräsentanten von Verhältnissen oder von historischen Prozessen. Mit VGE – wie die akronymversessenen Franzosen ihn seit Jahrzehnten nennen – wird eher ein Symptom geehrt als eine Persönlichkeit, die wirklich etwas durch entschiedenes, mutiges Tun verändert hätte.

Ja, klar, in den Siebzigerjahren haben sich die Männerfreunde Giscard und Helmut Schmidt – beide erst Finanzminister – um die Einführung des Europäischen Währungssystems verdient gemacht. Doch nach sieben Jahren Präsidentschaft wurde Giscard, erst 55-jährig, von François Mitterrand aufs Altenteil geschickt. Seither ist er ein Frührentner auf der Suche nach einer Rolle. Ehrgeizig, polemisch, besserwisserisch, wenn nötig wendig und immer übellaunig überzeugt davon, ihm wäre Größeres zugedacht als die zweitrangigen Jobs, die die Zeiten für ihn bereithielten: Provinzabgeordneter, Europaparlamentarier.

Weil er den Pariser Spitzen zunehmend auf die Nerven ging, haben sie ihn zum Präsidenten des EU-Verfassungskonvents expediert. Dem präsidiert der „Opa für Europa“ nun, „ein wenig zynisch“, „auch herrisch“, wie selbst Peter Glotz anmerkte, dem der Stil VGEs noch vergleichsweise sympathisch ist.

Nein, was immer man Gutes über ihn sagen mag, der große Verfassungsvater ist Giscard nicht; kein Visionär, der dem Konvent eine „Idee“ verleihen oder den Geist einer Verfassung in Europa zu verankern vermocht hätte. Zwar geht die Sache voran, leicht zerfasert bisweilen, und wird ein Ergebnis zeitigen. Aber kaum jemand wird je sagen: dank Giscard.

Was aber, wenn der Signifikant „Giscard“ gerade deswegen ein guter Repräsentant des europäischen Einigungsprozesses ist? Der vollzog sich immer zu einem guten Teil hinter dem Rücken der Akteure, als Reaktion auf Herausforderungen: Herausforderungen provozierten Entscheidungen, und die zeitigten dann Folgen, die wieder andere Entscheidungen – fast naturwüchsig – nach sich zogen. Und die Herausforderung heute ist tatsächlich wohl, das bisschen Macht, das Europa hat, in ein, zwei Zentralfiguren zu konzentrieren, um im globalen Hegemoniespiel Handlungsmacht zu gewinnen: vor allem vis-à-vis den USA. Eine Prise französische, die immer auch gaullistische Kultur ist, tut da nicht schlecht. In diesem, und nur in diesem Sinn ist VGE ein logischer Karlspreisträger. ROBERT MISIK