Kein „Sklavenmarkt“ mehr bei VW

Ostdeutschlands Metaller begannen Streik für die 35-Stunden-Woche. Scheitert er, fürchten Gewerkschafter einen Rückschlag auch im Westen

aus Zwickau MICHAEL BARTSCH

„Kung-Fu-Fighting“ dröhnt der Muntermacher aus dem Lautsprecher. Aber vor dem VW-Werktor in Zwickau-Mosel geht es eher schläfrig zu in der Mittagshitze. Das Pulver scheint verschossen nach den Vormittagskundgebungen mit den IG-Metall-Großkopfeten Klaus Zwickel und Hasso Düvel. Zu Betriebsrat Thomas Kuthning von der Streikleitung kommt ein Kollege getrabt. Er weist darauf hin, dass an einem Nebentor nur noch ein einzelner Streikposten stehe. „Da brauchen wir gar nicht erst streiken, da lachen die sich kaputt!“

Es geht noch einiges durcheinander an diesem ersten Streiktag. Erst allmählich trudeln Kollegen der Spätschicht ein, die die Überbleibsel der Frühschicht ablösen sollen. Als es darum ging, sich nach vier Stunden schnell den Stempel in die Streikkarte drücken zu lassen, herrschte jedenfalls großer Andrang. Ob wohl manche die vorerst vier Streiktage auch zum Tapezieren oder zur Gartenpflege nutzten?

Innerhalb des Werkzauns herrscht gespenstische Ruhe. Die Betriebsleitung hat Hinweisschilder entfernen und das riesige Firmenschild durch eine Plane verhüllen lassen. Auf dass keine Kamera eine rote IG-Metall-Mütze und das VW-Logo gemeinsam auf einem Bild einfange. Die Betriebsleitung hat aber auch einen Brief an alle Mitarbeiter geschrieben, mit dem sie jede Eskalation vermeiden will. Sie nehme in diesen Tagen keinerlei Arbeitskraft an, heißt es darin, also auch keine Streikbrecher. Erfahrungen mit dem Streik von 1993 spielen hier hinein, als es um den ersten Stufenplan der IG Metall im Osten ging und am damals noch ganz neuen VW-Vorzeigewerk in Mosel das Chaos herrschte. Viele Kollegen erinnern sich noch heute an den „Sklavenmarkt“ unweit des Tores.

Um die 85 Prozent der 6.500 Beschäftigten bei VW sind in der IG Metall organisiert. Für sie ist das Streikziel 35-Stunden-Woche unumstritten. Zwar hat es Drohungen gegeben, Produktionsbereiche nach Osteuropa zu verlagern. Aber das sei im Zuge der EU-Osterweiterung nur eine vorübergehende Erscheinung, wenn auch dort die Löhne nachziehen müssen, sagen Kollegen. „Und wenn in Polen einmal gestreikt wird, streikt das ganze Land!“ Betriebsrat Kuthning hat noch ein ganz handfestes Argument: Kommt die Wochenarbeitszeitverkürzung nicht, droht Personalabbau. Anders seien Rationalisierung und jährlicher Produktivitätszuwachs um etwa 5 Prozent nicht zu kompensieren.

Nebenan, beim ebenfalls aus dem früheren VEB Sachsenring entstandenen Gelenkwellenwerk, geht es etwas munterer und familiärer zu. Frauen bringen belegte Brötchen. Bestärkt füh-len sich die Posten hier durch ein Solidaritätsplakat aus Ingolstadt. Gelinge die Arbeitszeitverkürzung im Osten nicht, könnte auch die 35-Stunden-Woche im Westen kippen. Hatte nicht Lothar Späth den Osten einst als „Minenhund“ des Westens bezeichnet und Angela Merkel gerade erst gefordert, der Westen solle sich den verschärften Ausbeutungsbedingungen des Ostens anpassen? „Die Arbeitgeber wissen genau, dass dies auch ein politischer Streik ist“, meint Karl-Heinz Lorenz im Zelt der Streikleitung. „Es geht auch darum, ob Gewerkschaften überhaupt noch Arbeitnehmerrechte verteidigen dürfen.“

Auf diese Arbeitgeber sei man erst richtig sauer geworden, als sie das im vorjährigen Tarifvertrag gegebene Versprechen brachen, über Arbeitszeitverkürzung zu verhandeln, heißt es am Werktor. Vorher habe es wie überall auch Diskussionen über die Berechtigung eines Arbeitskampfes gegeben. Dann kündigte der VSME, der sächsische Verband der Metall- und Elektroindustrie, im Januar auch noch den kompletten Manteltarif! Der VSME überhaupt gilt als der größte Scharfmacher in Ostdeutschland, ohne den man sich wahrscheinlich schon mit der Betriebsleitung geeinigt hätte. Verbandsflucht, Separatverhandlungen und Haustarife können aus Arbeitgeberperspektive nämlich auch nach hinten losgehen. Große Genugtuung hat bei den Autowerkern ausgelöst, dass in den letzten Wochen drei nicht tarifgebundene Mittelständler der Region schon Haustarife abgeschlossen haben – mit stufenweiser Arbeitszeitverkürzung. Ab und zu räumen die Streikposten vor dem Schlagbaum der GKN Gelenkwellen ihre Stühle beiseite. Dann passieren Lkws mit Gütern für den kleineren Radsystemebetrieb das Tor, der auf dem Gelände eingemietet ist, nicht Mitglied im Verband ist und nicht bestreikt wird.