Die Kunst der Spinnenfrau

Erwachsenwerden heißt Kompromisse schließen. Damit aber wollte sich Louise Bourgeois nochnie begnügen. Die Berliner Akademie der Künste widmet der Bildhauerin nun eine Retrospektive

Fröhlich steht die Spinne auf den Zehenspitzenwie eine BallerinaDie Gesetze der Mathematik und des Vaters – ironisch bezwinkert

von HENRIKE THOMSEN

Als Louise Bourgeois sich entschloss, der Welt ihre Kunst zu erklären, tat sie es mit dem praktischen Sinn und der nüchternen Präzision eines Handwerkers. Glasscheiben stünden für Krankheit, ein wie abgeschnitten herunterhängendes Bein für Kontrolle über den Schmerz, erläuterte sie, als wolle sie dem Geheimnis ihrer Skulpturen und Installationen den Garaus machen. Vielleicht aber wollte die listig gewitzte Künstlerin, zu deren Symboltieren Fuchs und Spinne zählen, ihre Arbeiten auf diese Weise auch bloß schützen.

Schon auf der formalen Ebene umgibt sie sie gern mit einem Wall des Offensichtlichen: Mit Hilfe von Glas, Spiegeln, Bronze und genau angelegten Symmetrien behauptet Bourgeois eine totale Sichtbarkeit und Kontrolle aller ihrer künstlerischen Elemente. Erst dahinter öffnen sich in schwer zu definierenden Formen verborgene Räume – ein Gegenuniversum der undurchdringlichen Materie, des Schweigens, der archaischen Gewalt und Angst. Die spannungsgeladene Dialektik in ihrem Werk lässt sich nun in der Retrospektive in der Berliner Akademie der Künste betrachten.

Louise Bourgeois wurde 1911 in Paris geboren, dem Jahr, in dem Freud seine Studien zum Unterbewussten zu publizieren begann. Ihre Eltern betrieben eine Restaurierungswerkstatt für Teppiche aus dem Mittelalter und der Renaissance. Unter den Sammlern waren zahlreiche Amerikaner mit einem Sinn für erotische Szenen. Die auf alten Fotos oft aufmerksam-misstrauisch dreinschauende Tochter konnte beobachten, wie ihre Mutter zu reparierende Stoff-Genitalien mit einer kleinen Schere ausschnitt und sammelte.

Jahrzehnte später sollten sorgfältig aufgenähte oder aber wie gewaltsam herausgetrennte Körperteile in Bourgeois' Kunst eine zentrale Rolle spielen. Vaginas und Phalli treten wie verbotene Gedanken hervor, Zungenformen lassen den Wunsch nach Artikulation ahnen, erhobene Füße den Fluchtreflex. Bourgeois selbst bezog dies in ihren ausgiebigen Erklärungen seit ihrem internationalen Erfolg in den Siebzigerjahren auf ein Kindheitstrauma: Der Vater hatte ein Verhältnis mit ihrer englischen Erzieherin gehabt und die Mutter es jahrelang geduldet.

Als heranwachsendes Mädchen fühlte sich Louise von den Erwachsenen verraten. Sie studierte für kurze Zeit Mathematik, ab Mitte der Dreißigerjahre dann Kunst unter anderem bei Fernand Léger. 1938 heiratete sie einen amerikanischen Kunsthistoriker, zog nach New York, gebar drei Söhne und erhielt größte Anerkennung für ihr Werk. All das aber, so suggeriert die heute 93-Jährige, die zuletzt auf der Documenta 11, in der Londoner Tate Modern und der Eremitage von St. Petersburg zu sehen war, konnte sie nicht von der Kindheitserinnerung abbringen. Die Wut, die Scham, die Rachelust und die Sehnsucht nach Heilung, die aus ihren Werken spricht, scheinen untrennbar mit jener Urverletzung verbunden. Noch auf die patriarchalische Disziplin der Mathematik schien sie ihren Vaterkomplex zu projizieren: Als sie lernte, dass auch dort nicht alles verlässlich ist und sich in der nichteuklidischen Geometrie beispielsweise Parallelen treffen, wandte sie sich mit der gleichen zornigen Enttäuschung von ihr ab.

Zu Beginn ihres Erfolgs wurde Bourgeois oft unter dem Etikett einer „typisch weiblichen“ Bewältigungskunst verbucht. Im Kontext der späten Sechzigerjahre, als Kolleginnen wie Niki de Saint Phalle mit der sexuellen Gewalt des Vaters abrechneten, war dies nützlich. Einflussreiche Kritikerinnen hoben sie gegen die männlich dominierte Kunstszene des abstrakten Expressionismus und Minimalismus auf den Schild. Doch heute schwächt eine solche Lesart die Komplexität von Bourgeois' Arbeiten nur. Wenn auch die Akademie-Ausstellung mit 93 Zeichnungen und nur 22 Skulpturen einen begrenzten Einblick in ihr Hauptwerk bietet, macht sie dies zumindest sichtbar.

Die von Beatrice E. Stammer, Kathrin Becker und Antje Weitzel kuratierte Schau konfrontiert den persönlichen, tagebuchartigen Kammerton von Bourgeois mit seiner strategischen Ausarbeitung in fugenhafte Variationen der Leitmotive. Skulpturen aus „weiblichen“ Materialien wie Garn und Latex, die Bourgeois oft als erste Künstlerin verwendete, treffen auf solche aus Marmor, Bronze und Stahl. Ausgerechnet die harten Objekte begehen dabei eine ironische Mimikry, die sie so weich aussehen lässt wie ihre Nachbarn. „Nature Study # 5“ (1995) besteht aus einem in rosa Marmor gehauenen Schrein, der ein an Fleischwülsten und Brüsten reich wogendes Innenleben birgt. Die organisch-haptische Qualität ist vollendet. Mit leichtfüßiger Eleganz überragt eine Spinne von 1995 den mittleren der drei Säle, der ganz den Skulpturen gewidmet ist. Ihre aus konzentrischen Lagen aufgebaute Körpermitte ist ein geballtes Energiezentrum inmitten der langen Beine, die nach allen Seiten ausgreifen und den Raum erobern. Die gleiche, ansteckende Vitalität und Widerstandskraft spürt man in einer der Zeichnungen, welche die übrigen beiden Säle dominieren: In dem Aquarell von 1994 steht eine Spinne fröhlich grinsend auf den Zehenspitzen wie eine Ballerina.

Die Tochter der Teppich-Restaurateure ist der filigranen Ästhetik des Fadens stets verbunden geblieben. In zahllosen abstrakten Studien erforscht sie die Dynamik der Linie. Verwandtschaften mit Paul Klee, Joan Miró oder Cy Twombly fallen ins Auge; ihre wunderschönen schwarz-silbernen Gravurzeichnungen von 2002 gemahnen an chinesische Tuschemalerei. Das Oval von Brüsten und Tränen bildet den persönlichen Ausgangspunkt der Formsprache. Es entwickeln sich daraus Kreise und Pyramiden, jene Symbole einer nur scheinbar perfekten männlich-universalen Mathematik.

Wie das Material mit seiner Fülle und Schwere in Bourgeois' fein gesponnenes Werk eindringt, bleibt ein Wunder. Zu Beginn erlaubt es sich die Bildhauerin nur in homöopathischen Dosen: Ihre „Personnages“ aus den späten Vierzigerjahren sind hauchdünne Holzstelen, die vom modernen Interesse an der afrikanischen Skulptur geprägt sind, wie Giacomettis Arbeiten zugleich aber eine unverwechselbare Individualität atmen.

In den Sechzigerjahren entwickelt Bourgeois ihre so genannten formlosen Formen und schichtet sie übereinander. Fragile Türme aus unregelmäßigen, angesplitterten und aufgerauten Materiallagen werfen – mit Lust am Analen und Obszönen – alle Gesetze des Dekorativen und der artig beredten Metapher über den Haufen.

Vor dem Hintergrund anthropometischer Zeichungen wird in der Akademie jedoch deutlich, dass es sich auch hier noch um Studien des Körpers und vermutlich sogar um Selbstporträts der Künstlerin handelt. Die „Cumul“-Skulpturen erinnern an jene Märchenfiguren, die als Bäume oder Felsen verzaubert der Erlösung harren. Sie sind essenziell stumm. Die Bildhauerin befreit sie sukzessive und überführt sie in stärker raumgreifende, narrative Installationen. Es entstehen die so genannten Cells, die in Drahtverhauen die Bühne für ein Tableau vivant mit erkennbaren Personen und Requisiten bereiten.

„The View of the World of the Jealous Wife“ heißt diejenige von 2001, die in Berlin zu sehen ist. In einem runden Verschlag erkennt man die Schneiderpuppen zweier Frauen. Eine trägt eine giftgrüne Abendrobe, die andere, offenbar jüngere, ein geblümtes Dienstbotenkleid. Auf dem Boden liegen zwei mächtige weiße Bälle, zwischen denen die jüngere Rivalin aufragt wie ein erigiertes Glied. Abseits schwebt ein losgelöster Oberkörper in einer mädchenhaft verträumten Aureole veilchenblauer Glocken.

Es ist nicht schwierig, diese Szene mit Blick auf die Kindheitsgeschichte zu interpretieren. Interessanter aber bleibt, was sich der schnell beredeten Assoziation entzieht. Man muss mit dem gleichen hartnäckigen Eigensinn an die Werke herantreten, mit dem Bourgeois gern verhindern möchte, dass man sie erforscht. Wie Francis Bacon, den die Begegnung mit dem Surrealismus geprägt hatte, wendet sie selbst sich mit einem geradezu erschreckend starren Auge der Gewalt innerer Begehrensprozesse, aber auch des äußeren Lebens zu. In Bacons Werk beschleunigen sich losgelöste Körperteile und fleischige Klumpen auf einer imaginären Umlaufbahn. Bei Bourgeois erscheinen die gleichen Elemente still gelegter, abwartender – aber nicht weniger brutal. Gemäßigt werden ihre Arbeiten durch einen streng klassizistischen Aufbau und ihre Rhythmik. Zugleich liegt darin aber das ironische Zwinkern der Künstlerin, welche die Gesetze der Mathematik und des Vaters gegen diese ausspielt.

Die Hauptfarbe Rot kehrt in allen Spielarten wieder: babypink, fleischfarben, blutig leuchtend. In der Palette liegt eine ganze Mythologie der Menschwerdung beschlossen, aber auch von Verfall und Verlust. Das Thema, das Bourgeois zu umkreisen scheint, ist am Ende nicht der einer hysterisch sich geschmälert fühlenden Frau. Ihr Leiden resultiert viel eher aus dem Festhalten an der Fülle der Kindheit. Eine „Nature Study“ von 1984 zeigt das hermaphroditische Ideal: Eine kopflose Sphynx, deren weich ausladende Rundungen in einen kantig ragenden Unterleib mit Penis und Krallenpfoten übergehen. Mit solchen Totems beschwört die Künstlerin ihr Recht auf Ganzheit – auf Hingabe und Wehrhaftigkeit, Aufbau und Zerstörung, Männlichkeit und Weiblichkeit. Es ist der Urmythos des kreativen Impulses.

Erwachsenwerden heißt, auf solche Unmittelbarkeit und Ganzheit zu verzichten, Kompromisse zu schließen und sich mit Teilmengen zu begnügen. Bourgeois aber wollte sich nie begnügen. Sie trieb ihre Verweigerung und immer währende Selbstanalyse weit über die Grenzen ihrer biografischen Person hinaus. Ihr Werk stößt in die archetypischen Gefilde der Ich-Formation vor, zumindest wie das 20. Jahrhundert diese postulierte. Das Gefühl, dass man sich an der Wurzel von Charakterbildungsprozessen bewegt, zugleich aber mit ihrem raffinierten Destillat konfrontiert wird, macht diese Ausstellung so aufregend. Am Ende ist es von einer seltsamen historischen Folgerichtigkeit, dass Bourgeois erst im späten Alter von sechzig Jahren als Künstlerin entdeckt wurde: Ihr Werk ist das eines alten Kindes.

Bis 27. Juli, Akademie der Künste Berlin. Katalog: 28 €