Im Wesentlichen orientierungslos

Let‘s play identity: Zaghaft erst sind die Versuche des neuen serbischen Theaters, Anschluss an das europäische Drama zu finden. Eindrücke von einer Reise nach Novi Sad – zum Theaterfestival Sterijino pozorje, das einst die Kultur eines Landes stärken sollte, das es heute nicht mehr gibt: Jugoslawien

Dass dieses Land bis vor kurzem Krieg geführt hat, ist nicht erkennbarWährend der Vorführung fiel im Hintergrund der liebe Gott in den Schlaf

von CHRISTIANE KÜHL

Die serbisch-montegrinische Botschaft liegt in Berlin-Grunewald. Grunewald ist einer jener seltenen Berliner Bezirke, wo die Farbe Grau nicht vorkommt, Villen hinter üppigen Vorgärten nur zu erahnen sind und die Vögel ausnahmslos klassische Melodien zwitschern. Auch die Botschaft wird von einer milden Sonne beschienen und durch ein schweres Eisentor betreten. Dahinter jedoch gelang Erstaunliches, ein alter sozialistischer hat trick: Kaum hat man das Gebäude betreten, riecht es nach Siebzigerjahre-Jugendclub und Kafka.

Die Visastelle liegt im Souterrain, halbhoch mit Kiefernholz getäfelt. Es empfängt eine alte Olympia-Schreibmaschine samt blau kostümierter Dame, es grüßen schwarze Stühle, deren aufgeplatzte Plastikbezüge zerbröckelnden Schaumstoff freigeben. An den Wänden kleben Poster, die „Yugoslavia. Fall in love at second sight“ anbieten. Vielleicht ist es auch eine Bitte. In der Schlange wartend, überlegt man, ob man den Herrn hinterm Schalter wohl darauf aufmerksam machen soll, dass Jugoslawien seit dem 4. Februar 2003 nicht mehr existiert.

„Die Situation ist, milde gesagt, paradox“, erklärt Ivan Medenica auf der Dachterrasse des Nationaltheaters in Novi Sad. Medenica ist Theaterkritiker und der diesjährige Kurator des Festivals „Sterijino pozorje“. „Sterijino pozorje ist das älteste Theaterfestivals Jugoslawiens. Es präsentiert ausschließlich nationales Drama. Von Anfang an, also seit 1956, hatte es eine politische Funktion: die jugoslawische Kultur und Identität zu stärken. Nur: Dieses Jugoslawien gibt es nicht mehr. Und Kriterien zur Definition der serbischen Identität, der neuen Nationalität sind noch gar nicht gefunden.“

Parallel zum politischen Zerfall des Staatenbundes zerfiel das Festival in den Neunzigern Richtung Bedeutungslosigkeit: Erst konnten keine slowenischen und kroatischen Dramen mehr gezeigt werden, dann fehlten die aus Bosnien und Herzegowina, am Ende mussten auch die Stücke aus Mazedonien vom Spielplan gestrichen werden.

Auf dem Papier war die Sache eindeutig geregelt; die neue „Bundesrepublik Jugoslawien“ umfasste nur mehr Serbien und Montenegro und benannte sich im Februar dieses Jahres folgerichtig in „Serbien und Montenegro“ um. Für das Drama entstand damit jedoch eine absurde Situation. Die Zerteilung der Nation forderte teilweise eine willkürliche Verstümmelung des gemeinsamen kulturellen Erbes, denn abgesehen von Slowenien und Mazedonien wird in allen ehemaligen Teilrepubliken dieselbe Sprache gesprochen. „Wie sollen wir da unser nationales Drama definieren? Nicht einmal mehr serbokroatische Renaissancedichter können aufgeführt werden, wenn sie in Dubrovnik geboren wurden. Und das, obwohl es im 17. Jahrhundert Kroatien gar nicht gab.“ Über diesen Irrsinn hinwegsetzen können sich die Festivalmacher jedoch auch nicht, weil die Integration kroatischer Autoren widerum als Hegemonial-Attitüde verstanden werden könnte. Ivan Medenica zuckt die Schultern. „Unser Theater, genau wie die serbischen Intellektuellen, ist heute im Wesentlichen orientierungslos.“

Von der Dachterrasse des Nationaltheaters blickt man auf das Zentrum von Novi Sad. Der Rathausplatz wird von Repräsentativbauten des späten 19. Jahrhundert beherrscht, dahinter beginnt ein charmantes gedungenes Passagenviertel aus dem 18. Jahrhundert. Versprengt dazwischen sozialistische Klotzarchitektur, überall belebte Straßencafés mit Schirmen von Red Bull, Gauloises und anderen bunten Marken.

Dass dieses Land bis vor wenigen Jahren Krieg geführt hat, ist nicht erkennbar. Der Gratis-Stadtplan springt im Geschichtsabriss von der ungarischen Okkupation übergangslos zur Bombardierung durch die Nato, die die drei Donaubrücken der Stadt zerstörte. Dazwischen steht nur ein einzelner Satz, der Novi Sad als Haupstadt der Provinz Vojvodina vorstellt, „eine Stadt gegründet auf vielen Jahrhunderten des Multikulturalimus“.

„Die Serben wollen sich nicht mit ihrer jüngsten Geschichte auseinander setzten“, sagt Aleksandra Jovićević, Professorin an der Belgrader Theaterakademie und Theaterbeauftragte des Kultusministers. „Die Theater machen da keine Ausnahme.“ Während des Krieges wurden Boulevardstücke auf die Bühne gebracht, Historienschinken, nationalistische Töne und Kitsch. Gegen diesen Trend stellten sich wenige – allen voran die junge Dramatikerin Biljana Srbljanović, die immer wieder den grausamen Alltag des Krieges thematisierte; aber ihre Stücke fanden kaum Publikum.

„Dabei war es so einfach, damals in der Opposition zu sein“, erinnert sich Jovićević fast bitter: „Es gab einen klaren Feind und keine Gefahr. Glauben Sie mir: Wer Ihnen heute von heroischer Opposition erzählt, lügt. Milošević war die Opposition im Land total egal – er kümmerte sich um ganz andere Dinge, Srebrenica zum Beispiel. Darum widerum kümmerten sich die Oppositionellen hier nicht.“ Kulturpolitik heute zu gestalten sei definitiv schwieriger: „Was fehlt, ist eine kulturelle Vision.“

Ivan Medenica hat eine Vision, und, was „Sterijino pozorje“ angeht, sogar eine Art Reeducation-Vorhaben. Nicht nur, dass er zwei Dramen von Biljana Srbljanović und eins von der ähnlich offensiv mit Gewalt umgehenden Milena Marković präsentierte. Er wagte es auch, erstmals ein „off pozorje“-Programm zu integrieren, das Arbeiten serbischer Theater präsentierte, die den Anschluss an das europäische Drama suchen.

So waren in Spätvorstellungen Stücke von Mark Ravenhill, Enda Walsh, Ingmar Villqist und Marina Carr zu sehen. „Let’s play identity“ hat Medenica das achttägige Festival überschrieben, und meinte es ganz pragmatisch.

Auf den westeuropäischen Betrachter wirkten die meisten der Produktionen des achttägigen Festivals konventionell und häufig pathetisch. Weshalb etwa Tomaz Pandur bei seiner Dramatisierung von „Das chasarische Wörterbuch“ neben 20 Darstellern, Feuerfackeln und Sand auch noch einen Windhund und ein Pferd auf die Bühne bringen musste, erschloss sich dem rationalen Geist durchaus nicht ohne weiteres.

Ebenso wenig, weshalb Jagoš Marković als einer der vielversprechendsten Theatermacher Serbiens gehandelt wird – sein Stück „Die Telefonzelle“, das er in eigener Inszenierung zeigte, ließ neun Darsteller dreimal in einer Schlange vor besagter Telefonzelle stehen und neun Monologe in den Hörer sprechen, während vom Himmel Seifenblasen fielen.

Als Zuschauer hatte man viel Zeit zu beobachten, wie im Hintergrund der liebe Gott in den Schlaf fiel, und stellte mit Überraschung fest, dass der alte Mann unter seiner weißen Robe Turnschuhe trägt.

Die Frage, wie sich das serbische Theater seit dem Ende der Milošević-Ära verändert habe, beantworten die meisten zögerlich, aber recht einheitlich. Die großen Theater spielen demnach weiter Boulevard und Historiendramen und werden, solange sich das Land noch in der Transition befindet, schon aus finanzieller Unsicherheit keine Experimente wagen. An kleineren, jüngeren Bühnen werden sehr wohl andere Stücke gespielt; beeinflusst vom britischen Drama und Srbljanović entstand hier ein „Theater der Brutalisierung“, wie Medenica es nennt – aber ästhetisch habe sich auch hier wenig bewegt. Und weil die neue Regierung strukturell nichts an der Kulturförderung verändert hat, fressen weiterhin einige schwere Apparate viel Geld, während der Rest der Subventionsbewerber nach dem Gießkannenprinzip versorgt wird. Im Wesentlichen orientierungslos.

Die Suche nach serbischer Identität und Nationalität geht unterdessen weiter. Wobei viele liberale Menschen erklären, sich noch immer als Jugoslawen zu fühlen. Ohne Imperialgehabe haben sich 16.765 von ihnen, verstreut über die ganze Welt, bereits organisiert: Unter www.juga.com kann jeder, der ein Ministerium übernimmt und den „Algorithmus des sozialen Systems“ als höchste Verwaltungskörperschaft anerkennt, die Staatsbürgerschaft von Cyber Yugoslavia annehmen.

Wenn die Population fünf Millionen überschreitet, wird man sich mit der Bitte um Anerkennung an die UNO wenden und ein Staatsgebiet von 20 Quadratmetern erbitten. Dort soll dann der Server stehen.