ex-jugoslawien
: Unverstellter Blick

„Als wir uns hier 1921 angesiedelt haben, haben die Leute nie etwas Schlechtes über uns gesagt, aber durch die Politik ist die Situation dann anders geworden. Die faschistischen Ustascha haben uns mit Verachtung angesehen und sogar davon gesprochen, dass man uns aussiedeln sollte von hier. Seit Kriegsende gibt es im Ort keinerlei nationalen Hass mehr. Ich glaube, auch in der ganzen Region nicht.“ Diese Einschätzung gibt im Jahr 1962 ein Slowene aus einem Dorf in Kroatien. 30 Jahre später war der „nationale Hass“ wieder da, wie zwischen 1941 und 1945. Hat sich France T. damals, in der Hochzeit des Titoismus, geirrt? Oder gab er die exakte Beschreibung einer Wirklichkeit, die sich erneut dramatisch wandeln sollte?

Hannes Grandits und Karl Kaser haben in ihrem Buch mit dem poetischen Titel „Birnbaum der Tränen“ siebzehn exemplarische Lebensgeschichten aus allen Teilen Exjugoslawiens versammelt. Etwas Vergleichbares gibt es bisher nicht. Die biogafischen Berichte reichen teils zurück bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Sie zeigen, dass sich die jugoslawische Geschichte auch lebensweltlich im Spannungsfeld zwischen Modernisierung und Nationalismus bewegte. In eingängigen Lebenszeugnissen berichten die Befragten, was in ihrem Leben am wichtigsten war. Die Muslimin Mirna N. aus Bosnien zieht einmal den Kreis des Lebens und sieht dem baldigen Tod ins Auge. Der Montenegriner Nenad N. stellt hingegen die ehrbare Familie, in die er eingeheiratet hatte, in den Mittelpunkt. Djordje V. aus der Vojvodina beschreibt, wie er mit seinem Vater, einem kosmopolitischen Bourgeois, brach und ein glühender serbischer Nationalist wurde, um im Alter zu den Werten des Vaters zurückzukehren.

Die Berichte belegen, dass die Lebenswelten sich innerhalb nur einer Generation dramatisch änderten. Die einzelnen Zeugnisse sind dennoch voll Hoffnung für den sozialistischen Aufbruch in die neue Gesellschaft, aber sie wissen auch um die Verluste, die durch die Vergesellschaftung des Besitzes oder den Zerfall der traditionellen Großfamilien entstanden. Der Nationalismus, glaubte man, gehöre der alten Epoche an. Die einzelnen Erzählungen hat der amerikanische Ethnologe Joel Halpern bereits in den 50er- und 60er-Jahren aufgenommen. Die beiden Herausgeber haben diesen Schatz aus Halperns Archiv gehoben und ins Deutsche übersetzt. Die Zeugnisse sind deshalb nicht durch die blutigen Ereignisse der letzten zwölf Jahre in Exjugoslawien gebrochen. Gerade das macht sie so lesenwert, denn sie bieten den unverstellten Blick auf das, woher Jugoslawien kam, was es war und was es hätte sein können. HEH

Hannes Grandits und Karl Kaser: „Birnbaum der Tränen. Lebensgeschichtliche Erzählungen aus dem alten Jugoslawien“. Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2003, 232 Seiten, 24,90 €