Das Echo der Euphemismen

Der Kulturwissenschaftler Ivan Nagel greift die Rolle der Medien bei der Berichterstattung um die „Agenda 2010“ an. Schönfärbereien wie „Ich-AG“ würden eine neoliberalen Gleichschaltung fördern

Wie gesellschaftsfern oder sogar gesellschaftsfeindlich ist die Wirtschaft?

von PETER NOWAK

Mancher Leser der Süddeutschen Zeitung (SZ) wird sich am 30. Mai gefragt haben, ob er vielleicht die falsche Zeitung erwischt hat. Ging doch an diesem Tag der Kulturwissenschaftler Ivan Nagel in einen im Feuilleton abgedruckten Essay hart mit den deutschen Medien ins Gericht.

Sie seien seit zehn Monaten im Verein mit der CDU/CSU und Wirtschaftsverbänden erfolgreich dabei, Kanzler und Kabinett rabiat weich zu klopfen, um eine neoliberale Gleichschaltung unseres sozialen Lebens und Umgangs zu erzwingen, lautet seine Kernthese.

„Von ARD bis RTL, vom Wirtschaftsteil der SZ und FAZ bis zur Bild-Zeitung wurden die immergleichen extrem liberalen Dogmen vorausgesetzt und uns eingehämmert. Alternativen prangerte man schon durch die Wortwahl an.“ Im Detail widmet sich der sozial engagierte Intellektuelle Nagel dann bestimmten Wortschöpfungen, die seiner Meinung nach, die Notwendigkeit der Sozialkürzungen in den Medien legitimieren sollen.

Auch der Begriff „Sozialreformen“ selbst gehöre in das „Falschwörterbuch der Sozialreformen“. Die in häufig strapazierten Worthülsen von der „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“, der „Senkung der Lohnnebenkosten“ und der „Differenzierung der Lohnstrukturen“, ohne die heute kaum ein Wirtschaftsredakteur auskommt, sollen laut Nagel eine Politik des sozialen Kahlschlags und des Abbaus sozialer Rechte legitimieren.

Nagels Intervention sorgte sogleich für Aufregung bei der SZ. Schon drei Tage später distanzierte sich der SZ-Feuilletonchef Nikolaus Piper von seinem Gastautoren. Unter der Überschrift Lügen und Denkverbote warf er Nagel vor, „in der schlechten Tradition der deutschen Intellektuellen, ‚die Wirtschaft‘ als einen der Gesellschaft fremden, wenn nicht gar feindlichen Bereich zu betrachten“.

Auf Zustimmung hingegen stieß Nagel bei Gewerkschafts- und Arbeitsloseninitiativen. Anfang Juni hatte die Gewerkschaft Ver.di die erste Podiumsdiskussion mit dem Medienkritiker organisiert. Dabei wurden allerdings auch die Schwächen des mit großer persönlicher Verve vorgetragenen Streitschrift deutlich.

Haben die Medien wirklich einen so großen Einfluss auf die Weddinger Arbeiter, mit denen Nagel am Stammtisch diskutierte? „Ich ging im Wedding, Berlins Arbeiter- und Kleinbürgerkiez, in drei verschiedene Kneipen und sprach an der Theke mit Stammgästen. Nebenbei ließ ich fallen, die ‚rot-grüne Arbeitslosigkeit‘ (BZ) sei 1997, im letzten Jahr der Regierung Kohl, höher als heute gewesen. Einige lachten mich als Spinner aus, andere wandten sich grimmig ab; sie erkannten mich als Ex-DDR-Agitator. Geglaubt hat keiner von den Arbeitern, Arbeitslosen, was ich sagte – was die Statistik sagt.“

Auffällig auch, dass Nagel die rot-grüne Bundesregierung lediglich als von den Medien Getriebene sieht, als wären nicht viele Kürzungspläne in ihren Amtsstuben entwickelt worden. Nagel geht auch weitere kritische Stimmen ein, die wie beispielsweise der langjährige Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, Roderich Reifenrath, ebenfalls die „FDPisierung der deutschen Presselandschaft“ beklagen.

Wenig liest man bei Nagel auch über Gründe für die von ihm beklagten Zustände. Da wäre darauf hinzuweisen, dass die Anzeigenkunden großer Zeitungen in erster Linie Unternehmer und nicht Gewerkschaftler sind. Diese Erfahrung musste schon in den Siebzigerjahren ein gewisser Manfred Bissinger machen, als er wegen seiner wirtschaftskritischen Berichte seinen Posten als Stellvertretender Chefredakteur der Illustrierten Stern räumen musste.