Big in Japan

Sie heißen Miles, Readymade, Guano Apes. Sie stammen aus Würzburg, Wiesbaden oder Hannover. Und sie machen Gitarrenpop mit englischen Texten. Über die verschlungenen Wege aus der Nische

von THOMAS WINKLER

Käse und Salami kommen aus der Zellophanpackung, die Brötchen vom Bäcker an der Ecke, und der grobe Holztisch stammt noch aus den Achtzigerjahren. Die Jungs von Miles, Gitarrenpopband aus dem fränkischen Würzburg, frühstücken in der Neuköllner WG-Küche ihres Managers. Zwischen den Bissen geben sie Auskunft zu ihrem neuen Album „Don’t Let The Cold In“. Der große Pop-Glamour ist das nicht. Dabei liegt der große Pop-Glamour gerade erst drei Jahre zurück. Oder findet in einem Paralleluniversum statt: In Japan ist die neue Single von Miles gerade in die Top Ten eingestiegen.

Irgendwann einmal, vor einer halben Dekade etwa, da wurden Miles als Hoffnung gehandelt. Ein Vertrag mit einer international agierenden Plattenfirma stellte ihnen für ihr drittes, schlicht „Miles“ betiteltes Album eine zuvor undenkbare finanzielle Ausstattung zur Verfügung. Als sie ihren federleichten Gitarrenpop, zeitlose Melodien und ihre englischen Texte für einige Songs mit 16 Streichern der Münchner Philharmoniker verschmolzen, dazu ein professionelles Video gedreht wurde und eine solide Werbekampagne folgte, ließen Kritiker große Namen wie Beach Boys und Beatles fallen, und auch die Eroberung der Charts schien nur mehr eine Frage der Zeit. Drei Jahre später sind Miles wieder bei einem Indie-Label, besinnen sich auf ihre Rockwurzeln und berichten, wie die Band beinahe daran zerbrochen wäre, dass sich der programmierte Erfolg nicht einstellen wollte.

Irgendwann einmal, vor rund einer Dekade etwa, da wurde noch misstrauisch beäugt, wer auf Deutsch sang. Die Ärzte, Herbert Grönemeyer oder Element of Crime waren Einzelphänomene, die sich auf eine eingeschworene Fangemeinde stützten. Ansonsten war die Sprache der Lieder von Franz Schubert gerade noch gut genug für Schlager, Volksmusik oder Marius Müller-Westernhagen. Rockmusik aber, das war klar, musste englisch besungen sein, wenn man nicht als Pur enden wollte: Deutschrock galt ein Schimpfwort. Heute haben sich die Verhältnisse verkehrt: Hamburger Schule und deutscher HipHop rehabilitierten in den Neunzigern das vormals als unsingbar gehandelte deutsche Wort, zuerst im Underground. Anschließend fanden deutschsprachige Acts wie die Absoluten Beginner, Tocotronic, Sportfreunde Stiller oder zuletzt Wolfsheim in immer größerer Zahl den Weg in die Charts. Und nun, am vorläufigen Ende dieser Entwicklung, muss sich jede deutsche Band in Interviews und Vorstellungsgesprächen bei Plattenfirmen die Frage gefallen lassen, ob sie schon mal über deutsche Texte nachgedacht habe.

Die Charts werden zwar weiterhin von englischsprachigen Produktionen dominiert – die, auch wenn sie SNAP, Sarah Connor, Modern Talkin oder No Angels heißen und hierzulande gefertigt wurden, lediglich wie einst Frank Farian mit Boney M. international erfolgreiche Blaupausen kopieren. Im Schatten dieses Massenmarkts aber ist – zwei Jahrzehnte nach dem Neue-deutsche-Welle-GAU und sieben Jahre nach der unseligen Debatte um eine Radioquote – Rock und Pop mit deutschen Texten vom Nischengenre zum ernstzunehmenden Marktsegment gewachsen. Und damit auch für Majorlabels lukrativ geworden.

Aber es gibt sie noch: Sie heißen Slut, Pale, Uncle Ho, Smoke Blow oder Blackmail. Sie kommen aus Ingolstadt, Aachen, Wuppertal, Kiel oder Koblenz. Sie machen Gitarrenmusik und schreiben englische Texte. Und sie sitzen zwischen allen Stühlen: Denn sie konkurrieren nicht nur mit der deutschsprachigen Konkurrenz, sondern vor allem mit Bands aus England oder Amerika, mitunter gar mit den eigenen Vorbildern. So hängt ihnen schnell der Ruch des Epigonentums an. Einheimischer HipHop und Reggae haben den Vorteil, dass die Stars aus Jamaika und den USA selten den Sprung über den großen Teich wagen und so die lokale Alternative den Standortvorteil nutzen kann. Im Alternative-Rock-Bereich dagegen ist manche US-Band, Calexico etwa, hierzulande bekannter als in ihrer Heimat. Bands, die sich nicht mit deutschen Texten absetzen können oder wollen, begeben sich zwangsläufig in eine Klemme: Zu provinziell fürs Ausland, zu international für die deutsche Provinz. „Eine deutsche Band ist unsexy im Vergleich zu einer englischen, die auch nicht besser ist“, glaubt Miles-Bassistin Nina Kränsel, „das ist wie den eigenen Bruder küssen.“

So wissen vor allem die deutschen Dependancen der internationalen Unterhaltungskonzerne oft nicht, wie sie diese Bands vermarkten sollen, denn um Acts mit bescheidenen Mitteln langsam aufzubauen, dafür sind Majors nicht konstruiert. Stattdessen werden dieselben Mittel, im Musikgeschäft „tools“ genannt, angewandt, die das Business auch für Kindertechno und Ballermann-Feten-Hits vorsieht: Die Öffentlichkeit wird durch Werbeaufwand, aufwändige Videos und Medienpräsenz penetriert, bis sie sich dem Konsumangebot ergibt. Nur: Die potenzielle Zielgruppe einer Band wie Miles besteht aus erwachsenen Menschen, für die Musik auch Mittel zur Definition des individuellen Selbst darstellt. Independent-Firmen wissen das und verkaufen ihre Bands entsprechend, aber müssen sich dann mit Abverkäufen bescheiden, die selten fünfstellig werden. Ausnahmen wie The Notwist bestätigen die Regel: In diesem Falle landete ein Indie mit Major-Vertrieb im Rücken einen wohl nicht wiederholbaren Überraschungserfolg.

Miles dagegen verkauften von ihrem hoch gelobten Major-Debüt weltweit gerade mal 50.000 Stück, in Deutschland sogar nur 11.000. Mit solchen Umsätzen kann der geleistete Aufwand nicht wieder refinanziert werden. „Irgendwann werden Verkäufe und Investionen gegen gerechnet“, erinnert sich Miles-Sänger Tobias Kuhn, „und dann ist die Euphorie vorbei, und die Band verliert die Lobby in der Firma.“ So fanden sich Miles nach einem Wechsel an der Spitze ihrer alten Firma in monatelangen Rechtsstreitigkeiten wieder und begannen, die eigene Auflösung zu debattieren. Bei anderen Bands verschwinden fertige Platten auf Nimmerwiedersehen in den Safes, wenn der neu bestallte Abteilungsleiter kein kommerzielles Potenzial mehr zu erkennen glaubt. Oft ist es problemloser, risikoärmer und mit weniger Arbeit verbunden, ein bereits fertiges, erfolgreiches Produkt aus den USA oder England hier zu etablieren, als einen deutschen Act aufzubauen – egal, ob er auf Deutsch, Englisch oder Serbokroatisch singt.

Ein weiteres Problem ist die internationale Ausrichtung der meisten Major-Labels. Kalkulationen gehen oft von zusätzlichen Umsätzen auf ausländischen Märkten aus. Der lokale Akzent mag hierzulande nicht mehr auffallen – aber Deutschsprachler, die in Schulenglisch von ihren Herzensangelegenheiten singen, so wird kolportiert, ernten in den Zentralen der Unterhaltungskonzerne in London oder Los Angeles nur herzhaftes Lachen. In den meisten Fällen kommt es gar nicht erst dazu: Die Angst, die in den deutschen Filialen der großen Plattenfirmen herrscht, sich vor den Konzernchefs in Übersee zu blamieren, verhindert, dass deutsche Acts für eine internationale Veröffentlichung überhaupt vorgeschlagen werden.

So bleiben einer deutschen Band nur beschränkte Möglichkeiten, sich auch außerhalb von Deutschland, Österreich und der Schweiz zu etablieren. Eine davon ist, sich einen englischen Muttersprachler als Sänger suchen. So machten Raemonn vor drei Jahren mit ihrer Single „Supergirl“ auch im Ausland Karriere. Die Band um den in Berlin lebenden Iren Rae Garvey spielt einen nach internationalen Standards abgesicherten Mainstream-Rock, der zwar nicht automatischen Erfolg garantiert, aber das Sicherheitsdenken im mittleren Management einer Plattenfirma befriedigt. Zudem hat man bei Virgin erkannt, wo die Zielgruppe von Raemonn wartet: Die Tournee zum eben erschienenen Album „Beautiful Sky“ führte die Band anderthalb Monate lang nahezu ausschließlich durch Irish Pubs.

Eine zweite Möglichkeit ist es, sich auf ein klar umrissenes Marktsegment zu konzentrieren. Die Scorpions bedienten vor Jahrzehnten so erfolgreich Metal-Fans in der ganzen Welt, dass in ihrer Nachfolge Bands wie Helloween, Accept oder Blind Guardian den Ruf des Deutschen als soliden Metallhandwerker festigen konnten. Strukturell vergleichbar ist der momentane Erfolg der Guano Apes, die nicht nur hierzulande problemlos mittelgroße Hallen füllen, sondern auch im Ausland solide Verkäufe verzeichnen: Ihr „Proud Like A God“ von 1997 gilt als das bestverkaufteste Debütalbum einer deutschen Band mit englischen Texten aller Zeiten! Die Hardcore-Band aus Göttingen ist vor allem in Skater- und Snowboarderkreisen beliebt: In den einzelnen europäischen Ländern mag diese Szene jeweils nicht allzu groß sein. Sie ist aber international gut vernetzt, und ist bei Festivals in Wintersportorten konzentriert zu erreichen. Grenzübergreifend gut ausgebaute Independent-Strukturen gibt es auch im Punkbereich, dank denen beispielsweise eine Band wie die Beatsteaks aus Berlin auch im Ausland halbwegs erfolgreich Platten verkaufen.

Wirklicher Massenerfolg im Ausland aber wird erst möglich, wenn Erscheinungsbild und Ästhetik ausdrücklich deutsche Klischees bedienen. Dank Roboterimage und Technologievorsprung wuchsen Kraftwerk – nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihres deutschen Akzents – zur einflussreichsten deutschen Band aller Zeiten, und waren in USA und Großbritannien sogar erfolgreicher als in der Heimat. Zuletzt erschreckten Rammstein mit rollendem R und Faschismusflirt überaus erfolgreich David Lynch und einige Millionen weiterer Amerikaner.

Wer einfach nur gute Songs schreibt, bleibt da leicht auf der Strecke. So wie Readymade: Das Quartett aus Wiesbaden wurde von der Plattenfirma Motor Music verpflichtet, die ihr solides Rockalbum „The Feeling Modified“ im vergangenen Spätsommer mit so viel Aufwand in die Läden pushte, dass in der Branche das große Kopfschütteln einsetzte. „So in die Vollen zu gehen, kann gar nicht rentabel sein“, sagt die Mitarbeiterin eines Konkurrenzunternehmens, „damit tut man der Band doch keinen Gefallen.“

Die Verkäufe von „The Feeling Modified“ blieben denn auch im – zumindet für ein großes Majorlabel wie Motor Music – mikroskopischen Bereich, und Readymade sind auf dem besten Wege, die nächsten Miles zu werden: Eine Hoffnung von gestern.

Miles sind jedoch gerade wieder dabei, sich aufzurappeln. Gern erinnern sie sich an die Zeit, als ihnen noch die ganze Welt offen zu stehen schien. Bei einem Konzertausflug nach Japan etwa wurden sie als Stars empfangen, mit Limousinen zum Showcase in den Plattenladen gekarrt, wo sie überlebensgroße Pappfiguren ihrer selbst erwarteten. „Das war peinlich berührend“, erzählt Kuhn, „aber auch schön – weil man so viel Sushi essen konnte, wie man wollte.“ Zumindest in Japan scheint es noch egal, woher die Musik kommt. Hauptsache: Es wird auf Englisch gesungen, irgendwie.

Guano Apes: „Walking on a Thin Line“ (SuperSonic/BMG). Reamonn: „Beautiful Sky“ (Virgin). Blackmail: „Friend of Foe?“ (WEA). Miles: „Don’t Let The Cold In“ (Nois-O-Lution/Indigo)