bettina gaus über Fernsehen
: Böse Glotze

Kommt Harry ins TV, hat Voldemort gewonnen

Bestimmt kann auch ein Leben in Herne sehr lebenswert sein. Wenn man allerdings an einem Sonntagmorgen dort ankommt und erst gut eine Stunde später verabredet ist, dann braucht man für diese Vorstellung viel Fantasie. Kein Café in Sichtweite. Nicht einmal die wenig einladende Bahnhofsgaststätte ist geöffnet. Im Frühstücksraum des entlegenen Hotels, zu dem ein Taxifahrer den Weg weist, sitzt eine unerträglich fröhliche Gruppe biederer Männer und Frauen, die sich gegenseitig Witze erzählen. Vielleicht kann ein Tag noch schlechter anfangen. Aber wahrscheinlich nicht.

Wenige Minuten später steht fest: Er kann eigentlich gar nicht besser anfangen. Schade ist nur, dass man nicht noch viel länger an diesem herrlichen Ort sitzen kann, der alles bietet, was man braucht – nämlich Ungestörtheit und 766 ungelesene Seiten „Harry Potter“. Die hatte man am Vortag hastig in den Koffer gestopft und unbegreiflicherweise bis zu diesem Augenblick vergessen. Was das mit Fernsehen zu tun hat? Gar nichts. Das ist ja das Wunderbare. Zwar steht zu befürchten, dass es den Zauberschüler irgendwann als marshmallowige 25-Minuten-Endlosschleife geben wird, unterbrochen von zwei Werbepausen. Das wird dann der endgültige Sieg von Lord Voldemort sein – und der Tod von Harry Potter. Aber noch ist es nicht so weit. Noch lebt er.

In 200 Ländern (wie viel mehr gibt es überhaupt?) sind die Bücher von J. K. Rowling bislang verkauft worden. Als Hinweis auf das immer engere Zusammenwachsen der Welt im Zeitalter der Globalisierung ist das interpretiert worden. Eine schnelle und blödsinnige Deutung. Als ob die Beatles nicht auch weltweit gehört würden, ohne dass deshalb im Kongo nun plötzlich ähnliche Musik entstünde wie in Kanada. Solange Eindrücke von außen Raum lassen für die eigene Prägung, so lange bleiben Unterschiede interessanter als Gemeinsamkeiten.

Was für Bilder entstehen im Kopf eines 12-jährigen Chinesen, der „Harry Potter“ nachmittags in einem Park von Schanghai liest? Dieselben wie im Kopf einer 46-jährigen Deutschen morgens in einem Hotel in Herne? Eine abstruse Vorstellung. Als Kind habe ich Jim Knopf geliebt, und natürlich hatte er dieselbe Hautfarbe wie ich. Da konnte Michael Ende schreiben, was er wollte. Nicht einmal die Illustrationen im Buch vermochten mich zu irritieren. Mit Rassismus hatte das nichts zu tun. Ich kannte einfach keine schwarzen, braunen, roten und gelben Leute, und deshalb habe ich mir darüber auch keinerlei Gedanken gemacht. Ich kannte und mochte Jim Knopf, und ich träumte mich gerne an seine Seite. Selbstverständlich sah er genauso aus wie alle anderen Kinder. Wie denn sonst?

Wenn indische, kenianische und britische Schüler gleichzeitig gebeten würden, ein Bild von Dumbledore zu malen, dann erführe man vermutlich viel über nette Lehrer in ihren jeweiligen Ländern. Und wenig darüber, wie Frau Rowling den Schuldirektor von Hogwarts beschrieben hat. Oder ist es für ein solches Experiment schon zu spät? Eine Milliarde Euro hat der erste „Harry Potter“-Film weltweit eingespielt. Er war eine der erfolgreichsten Produktionen der Kinogeschichte. Ist der unbefangene eigene Blick nicht also längst getrübt, auf allen Kontinenten?

Nein, vermutlich nicht. Den Besuch eines Kinos kann man verweigern. Meine damals 13-jährige Tochter und ihre Freundinnen hatten allesamt keine Lust, den Film zum Buch zu sehen. Ihre klare, aufschlussreiche und überzeugende Begründung: „Hermione ist viel zu hübsch.“ Der Reiz von Harrys Schulfreundin besteht im Buch ja gerade darin, dass sie einem weiblichen Idealbild nicht entspricht, das 13-Jährige – in dieser Hinsicht realistischer als 22-Jährige – ohnehin für unerreichbar halten. Der Kintoppwerbung konnten die Teenager nicht entkommen. Sie war informativ und abschreckend. Keines der Mädchen wollte sich die eigenen Fantasien zerstören lassen. Sie haben den Film bis heute nicht angeschaut.

Die Flucht vor dem Fernsehen ist viel schwieriger. Man zappt so herum, und irgendwann bleibt man hängen, ob man will oder nicht. Der Bildschirm hat eine umfassendere Suggestionskraft als alle anderen Medien. Er ist leicht erreichbar, und er bietet ein nicht mehr interpretierbares Bild des Geschehens. Anders ausgedrückt: Er zerstört alle Bilder im Kopf. Das ist übrigens auch das Erfreuliche an Aufnahmen eines Krieges: Solange die Zuschauer sie ertragen können, so lange müssten die Ereignisse doch eigentlich auch für die Betroffenen erträglich sein.

Die Autorin von „Harry Potter“ hat nicht verhindert, dass ihre Schöpfung (unter anderem) in einen Schlüsselanhänger aus Kunstharz verwandelt wurde. Das ist egal. Sie hat nicht verhindert, dass ihr Stoff verfilmt wurde. Das ist nicht ganz so egal. Es gefährdet ihre Figuren, aber es bringt sie noch nicht um. Wenn sie das verhindern will, dann darf sie nicht erlauben, dass ihre Bücher fürs Fernsehen aufbereitet werden. Fernsehen ist ein in mancherlei Hinsicht nützliches Medium, aber es stutzt die Flügel der Fantasie. Den Sieg von Lord Voldemort kann nur J. K. Rowling verhindern. Viel Glück.

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