Am Ende: kalte Capricciosa

Wenn ich schon eine Welt des Mangels filme, wird sich Ken Loach gesagt haben, dann bitte ohne tapferen Helden: „Sweet Sixteen“ erzählt von der Tristesse einer schottischen Kleinstadt und dem 15-jährigen Liam, der niemandem die Stirn bietet

von PHILIPP BÜHLER

Recht unsanft wird einem in den ersten Minuten von „Sweet Sixteen“ bewusst, warum man Ken Loach und seinen deprimierenden Filmen über Jahrzehnte die Stange gehalten hat. Immer gab es diese eine, meist männliche Identifikationsfigur, die den Umständen sympathisch die Stirn bot: der süße Billy in „Kes“, der knuffige Prolo Robert Carlyle in „Riff-Raff“, Adrien Brody als fröhlicher Agitator in „Bread and Roses“. Nun aber ist da Liam, der in ein paar Wochen sechzehn wird und in der vermutlich tristesten Kleinstadt Schottlands aufwächst. Wenn ich schon eine Welt des Mangels zeigen will, mag sich Loach gedacht haben, nehme ich euch auch noch den tapferen Helden. Der Titel kann nur ironisch gemeint sein. Nichts ist süß an diesem schrecklichen Alter, nicht der Flaum im Gesicht und schon gar nicht die Gelsträhnen, die unter der obligatorischen Baseballkappe herauskräuseln. Liam wird auch nichts und niemandem die Stirn bieten. Er ist es gewohnt, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. In schottischen Krisenregionen bedeutet das: Drogen verkaufen, sich mit Junkies prügeln, mit dem Kumpel Pinball als lebensmüdes Crash-Kid durch die Straßen donnern.

Erst allmählich wird im emotionalen Chaos noch etwas anderes sichtbar: ein mörderisches Verlangen nach Liebe und der Wunsch nach einem besseren Leben. Mit dem Geld aus seinen Heroingeschäften will er seiner Mutter einen Wohnwagen kaufen. Die hat sich selbst abgeschrieben und sitzt für ihren Bastard von einem Freund im Gefängnis. Der Caravan soll ihr gemeinsames Heim werden ab dem Tag, an dem sie entlassen wird. Sein sechzehnter Geburtstag.

Nicht umsonst erinnert Loach immer wieder an das Alter seines Protagonisten. Mit sechzehn gibt es Menschen und Systeme, die einem die Verantwortung abnehmen. Liam hingegen ist für seinen Schaden in vollem Umfang selbst verantwortlich. Er macht alles falsch, hat falsche Vorstellungen, lässt sich mit den falschen Leuten ein. Vom örtlichen Drogenboss, pikanterweise dem Leiter eines Fitnesscenters für Besserverdienende, lässt er sich fast zum Killer abrichten. Was Mutter Jean von Liams Wohnwagenträumen hält, hätte er besser nie erfahren. Und auch wenn die Umwandlung eines Pizzakuriers zum Drogenmobil unternehmerische Eigeninitiative beweist: Am Ende bleibt nur kalte Capricciosa und, vielleicht, ein Job im Call-Center. Man bemerkt nicht einmal das Fehlen all jener liebenswerten Repressionsinstitute, gegen die Loach in früheren Filmen anging. Der schurkische Sportlehrer, der in „Kes“ gegen die eigenen Schüler Elfmeter schindet und auch noch selbst versenkt. Schuldirektoren, Baulöwen, Vorarbeiter, Jugendamt, Gewerkschaften: Das ganze Loach-Universum ist in sich zusammengekracht. Und nichts wurde dadurch besser.

Ein Grund, warum dieses Adoleszenzdrama eben doch nicht deprimierend wirkt, ist diese bewundernswerte Fähigkeit eines Regisseurs, auch nach vierzig Jahren im Beruf mit seismografischer Exaktheit aktuelle Entwicklungen nachzuzeichnen. Mit großer Erleichterung kann zudem festgehalten werden, dass Loach nach linken Pflichtübungen in Lateinamerika („Carla’s Song“) und dem Politkino von „Bread and Roses“ wieder zur guten, alten Sozialstudie zurückgekehrt ist. Vor allem aber dürfte „Sweet Sixteen“ der Film sein, in dem er seine Kunst des sozialen Realismus erstmals zur Perfektion getrieben hat. Nie war sein Verzicht auf Pathoselemente so unerbittlich. Nie hatte er ein solch fantastisches Drehbuch wie das seines langjährigen Mitarbeiters Paul Laverty, das sich dafür umso liebevoller auf seine Hauptfigur konzentriert. Doch, es liegt viel Süße in dieser Geschichte und im Spiel des von der Straße gecasteten Martin Compston, auch wenn sein derber schottischer Slang zu den in Großbritannien mittlerweile üblichen Untertiteln und einer völlig inakzeptablen Altersgrenze ab 18 geführt hat. Der Titel lügt nicht. Man hätte es auch nicht geglaubt, dass Ken Loach auf seine alten Tage ironisch wird.

„Sweet Sixteen“. Regie: Ken Loach. Mit Martin Compston, William Ruane, Annmarie Fulton u. a. Großbritannien/Deutschland/Spanien 2002, 106 Min.