Das Leiden der asiatischen Pisa-Sieger

Korea und Japan zählten zu den erfolgreichen Ländern des weltweiten Schulvergleichs. Trotzdem wollen sie ihre Schulsysteme gründlich reformieren. Statt des unmenschlichen Drills in abendlichen Zusatzschulen sollen die SchülerInnen Freiräume für mehr Individualität und Kreativität bekommen

aus Jeju und Seoul SVEN HANSEN

Lee Chong Jae denkt angestrengt nach und schweigt. Der Pädagogikprofessor der Seouler National-Universität sucht danach, was Deutschland vom Pisa-Star Südkorea lernen könnte. Koreas Fünfzehnjährige hatten beim weltweiten Schulvergleichstest in den Naturwissenschaften den ersten Platz erreicht, die Deutschen krebsten bekanntlich am 21. Platz. Professor Lee denkt immer noch nach. Ihm will nicht einfallen, wo sein Land Vorbild sein könnte.

Nach einer langen Pause sagt er schließlich: „Es gibt so viele Dinge, die wir Koreaner vom deutschen System lernen können.“ Deutsche Lehrer seien gut ausgebildet. Sie seien engagiert, findet der koreanische Pädagoge. „Sie sind stolz auf das, was sie machen, und Stolz ist wichtig.“ Herr Lee, die Frage war umgekehrt: Was kann Deutschland von Ihnen lernen? „Koreas Ergebnis sieht wirklich sehr gut aus. Ich war einer der Leiter der Untersuchung und weiß, dass wir uns an die Regeln gehalten haben. Doch wir glauben der Studie nicht.“ Wie bitte? „Nun ja, Koreas Schüler sind darauf gedrillt, bei Tests gute Ergebnisse zu erzielen, aber es mangelt ihnen an Substanz.“

Schulen ohne Initiative

Lee Ching Jae leitet das staatliche Koreanische Institut für Bildungsentwicklung (Kedi). In einer Broschüre spricht Kedi gar von einer Krise im koreanischen Schulsystem. Lee selbst erkennt eine wachsende Kluft: Zwischen den Anforderungen, die Schule und Gesellschaft an die Jugendlichen haben. Südkoreas Schulen seien nämlich immer weniger in der Lage, die Teens auf’s Leben vorzubereiten. Dabei hat es in den letzten 30 Jahren viele Bildungsreformen in Korea gegeben. „Doch das waren Reformen von oben und nicht von unten“, meint Lee. „Die Schulen haben die Initiative verloren.“

Schüler und Eltern haben kein Vertrauen mehr in die Schulen. Die Kinder werden in privaten Zusatzunterricht gesteckt. Der findet am späten Nachmittag statt, abends und am Wochenende. Er führt dazu, dass Koreas Schüler bis zu 18 Stunden täglich schulischem Drill ausgesetzt sind. Ohne diese Hardcore-Nachhilfe haben junge Koreaner kaum Chancen auf die Uni.

Kein anderes OECD-Land gibt prozentual so viel Geld für Bildung aus wie Korea. 1999 waren es laut einer Umfrage 6,8 Prozent des Bruttosozialprodukts, in Deutschland 5,6 Prozent, der OECD-Durchschnitt lag bei 5,5 Prozent. Im Jahr 2002 investierte Korea gar 7,5 Prozent. Über ein Drittel der Ausgaben aber fließt in den privaten Sektor, zu dem die Zusatzschulen zählen. „Wir geben sehr viel Geld für Bildung aus“, sagt Chung Bom Mo vom Büro für „Humanressourcen“ im Bildungsministerium in Seoul, „aber wir tun dies nicht effizient. Wir müssen die privaten Ausgaben für Bildung reduzieren – und die öffentlichen Schulen verbessern.“

Dafür müsse man das Schulsystem deregulieren und dezentralisieren. Direktoren, Lehrer, Eltern und Schüler müssten die Chance haben, sich aktiv an der Verbesserung des Bildungssystems zu beteiligen. Die Gesellschaft müsste, fordert Chung, im Gegenzug ihre „Diplomkrankheit“ ablegen. In Korea werden Zeugnisse wichtiger genommen als die Substanz der erlernten Fähigkeiten. Eine gute Englischnote etwa in einem üblichen Multiple-Choice-Test bedeutet in Korea noch lange nicht, dass sich die Schüler in dieser Sprache verständlich machen könnten.

In Japan ist ein ähnliches Phänomen zu beobachten. Auch dort, bei einem der Pisa-Gewinner, gehen zwei Drittel der Schüler nach dem regulären Unterricht weiter auf die Schule – um in privaten Zusatzstunden zu büffeln. Als Modell möchte Murata Naoki, Abteilungsleiter im Bildungsministerium in Tokio, das japanische Schulsystem daher nicht empfehlen. Bei einer asiatisch-europäischen Bildungskonferenz, die von der Asia-Europe-Foundation (Asef) auf der südkoreanischen Pazifikinsel Jeju ausgerichtet wurde, trat er zwar selbstbewusster auf als seine koreanischen Kollegen. Doch sein Tenor klingt ganz ähnlich: „Die Pisa-Studie besagt nicht, dass Japan ein besseres Schulsystem als Deutschland hat, auch wenn Japans Schüler besser abschnitten.“ Viele Japaner, so sagt Murata, hätte das sehr gute Abschneiden ihrer Schüler selbst überrascht.

Japans gutes Ergebnis führt er darauf zurück, dass dort das Erlernen von Grundfähigkeiten betont wird. Am deutschen System schätzt er, dass nicht jeder an die Uni streben müsse, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. „Wer in Japan Handwerker oder Facharbeiter ist, kommt sich als Versager vor. In Deutschland hingegen sind die Handwerksmeister gesellschaftlich anerkannt und können stolz sein.“

Japan orientiert sich nun stark an westlichen und skandinavischen Bildungssystemen. „Wirtschaft und Wissenschaft sagen uns, dass mangelnder Individualismus unsere Schwäche ist“, berichtet Murata. „Wir wollen die Individualisierung und Kreativität stärken.“ Japan brauche nicht nur eine breite Basis guter Grundbildung – sondern auch Spitzenleute mit neuen Ideen und Initiativen.

Japans Jugendliche sind heute schon individualistischer als ihre Elterngeneration. Aber die Schulen sind weiter Anstalten, die auf Homogenität und Unterordnung setzen. Das sich, wie die Pisa-Forscher fordern, die Schulen den Schülern anpassen sollen – und nicht umgekehrt –, wäre eine Kulturrevolution. Die Globalisierung wirke ironisch, meint gar der koreanische Pädagoge Lee In-Ho: „Denn sie setzt international gleiche Standards – nach unabhängigem Denken.“ Hätte Pisa die Fähigkeit zu Kreativität gemessen, hätten die Ostasiaten sicher schlechter abgeschnitten.

Und so lernen auch asiatische Pisa-Forscher wie Murata Naoki das System des Pisa-Siegers Finnland schätzen. Dort haben die Schulleiter große Freiheiten und viel Macht. „Auch wir brauchen mehr Autonomie an den Schulen. Das spornt die Schulleiter an.“ Dabei macht die wirtschaftliche Stagnation auf hohem Niveau den Rektorenjob in Japan schwer. Schüler lassen sich kaum motivieren. Bei Pisa gaben viele japanische Schüler zu Protokoll, sie gingen nicht gern zur Schule.

Pauksysteme sind out

Auffällig beim Austausch der asiatischen und europäischen Bildungsexperten in Südkorea war, dass Ostasiens Reformer ihre Pauksysteme als nicht zukunftsfähig ansehen. Sie orientieren sich nun an Nordeuropa und Nordamerika. Japaner und Koreaner argumentieren vor allem wirtschaftlich, wenn sie vom Individualisieren, Deregulieren und Dezentralisieren schwelgen.

Die Skandinavier hingegen argumentieren politischer. Der schwedische Bildungsreformer Mats Ekholm etwa argumentiert, dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Kreativität nur mit offenen und demokratischen Gesellschaften aufrechtzuerhalten seien (siehe Interview). Das wiederum setze mündige Bürger voraus. Je mehr sie mitentscheiden könnten, desto eher seien sie auch motiviert, zu lernen. Ekholm präsentierte eine Studie über die Entwicklung der Mitbestimmung schwedischer Schüler im Schulalltag. Dabei wurde deutlich, dass auch Schwedens Fortschritt eine Schnecke ist – in 25 Jahren nahm deren Partizipation zwar zu, aber langsam.

Korea steht noch ganz am Anfang. Die Regierung hat eine Bildungsreformkommission unter einem erfolgreichen Reformpädagogen aus der Praxis berufen. Doch von Dezentralisierung und Deregulierung ist man weit entfernt. Die Regierung will ein National Education Information System (Neis) genanntes landesweites neues Datensystem einführen. Es würde den Behörden den direkten elektronischen Zugriff auf sämtliche Schulakten sowie Schüler- und Lehrerdaten ermöglichen. Die nationale Menschenrechtskommission hat sich aus Datenschutzgründen gegen Neis ausgesprochen. Seitdem läuft zumindest eine Lehrergewerkschaft gegen Neis Sturm. In der Hauptstadt demonstrierten 5.000 Lehrer gegen Big Brother Neis. Ehrgeizige Eltern dürften vorerst weiter auf private Paukschulen setzen, wenn sie ihre Kinder voranbringen wollen.