Chinatown, Express

„See your number.“ Mehr Englisch-kenntnisse braucht der Angestellte nicht

aus Washington MICHAEL STRECK

Nicht die Ohrstöpsel vergessen, war der dringende Rat. Von brüllenden Kung-Fu-Videos war die Rede, von lautem Dauerchinesisch – vier Stunden lang. Auch die Gerüche sollten nicht jedermanns Sache sein, hieß es. Angeblich wurden an Bord auch schon Hühner und Ferkel gesichtet. Egal. 30 Dollar nach New York und zurück. Das ist unschlagbar. Der Preis hat eine magische Kraft. Es bedarf keiner Hotline oder Internetseiten. Mundpropaganda erledigt das PR-Geschäft.

Es ist Freitagnachmittag kurz vor fünf in Washingtons Chinesenviertel, einer etwas übertriebenen Bezeichnung für ein rot-goldenes Straßentor und drei asiatische Restaurants. Junge Leute mit Rucksäcken drängen an dem weißen, langen Bus in der schmalen I-Street vorbei und verschwinden hinter einer Eisentreppe im Keller. Auf einem windschiefen Schild, das den nächsten Sturm nicht überlebt, steht viel auf Chinesisch und ein Wort in lateinischen Buchstaben: „Dragon“.

Der chinesische Drache mit seinen konkurrenzlosen Preisen ist der Schrecken der alteingesessenen Busgiganten wie Greyhound und fürchtet allenfalls, den Kundenansturm nicht mehr bewältigen zu können. „Wir haben vor zwei Jahren mit einer Tour pro Tag angefangen. Jetzt fahren wir schon viermal am Tag“, sagt Manager Zhang Gu, der früher in Kanton lebte. Vor ihm steht ein Schreibtisch, der vermutlich aus einem Parteibüro in seiner Heimatstadt stammt. Hinter ihm erleuchtet ein roter Schrein den muffig-düsteren Kellerraum, der als Büro dient. An schmutzigen Wänden kleben eine Washington-Karte und zwei Fahrpläne. Auf Chinesisch. Ein Fernseher sendet milchige Bilder aus dem Reich der Mitte.

Die kargen Holzbänke sind nicht sehr einladend, die Fahrgäste warten lieber oben auf dem Gehsteig. „Sie sehen, wie wir ausgestattet sind. Das kostet alles nichts“, sagt der kleine, schmächtige Mann in gebrochenem Englisch triumphierend, als ob er sagen möchte: Wir zeigen euch Amerikanern mal, wie man Geschäfte macht. Dann kommandiert er in strengem Chinesisch einen Mann mit Boxernacken und Bürstenhaarschnitt aus dem Keller. In wenigen Minuten unterzieht sein einziger Angestellter den Bus einer Grundreinigung und befiehlt die Passagiere auf ihre Sitze. „See your number.“ Mehr Englischkenntnisse braucht er für diesen Job nicht.

Der voll besetzte Bus quält sich durch den Feierabendverkehr, vorbei an den vernagelten Fenstern und leeren Ruinen im Schwarzenghetto der Hauptstadt. Außen drückt die erste Hitzewelle des Sommers, innen herrscht Kühlhaustemperatur. Der Chinatown-Express befördert vor allem College-Studenten. Innerhalb weniger Minuten verwandelt er sich in ein rollendes Call-Center. Aufgeregte Mädchen planen minutiös ihr Wochenende in Manhattan. Andere tauschen Details ihrer neuesten Bekanntschaften aus. Freiwillig fallen die Barrieren der Privatsphäre. Englisch vermischt sich mit Indisch, Französisch, Spanisch, Arabisch und Chinesisch. Dann steht der Bus im Stau. Über dem Highway, der vierspurig durch die endlos verstädterte atlantische Tiefebene nach New York durchzieht, leuchtet eine Warntafel: „Ozongefahr“.

Die Leute frieren. Sie verkriechen sich unter ihren Jacken. Bitten, die Temperatur zu erhöhen, werden vom Fahrer stoisch ignoriert. „Der weiß, bei dem Preis kann sich niemand über den Service beklagen“, sagt der wahrscheinlich einzige Chinese außer dem Fahrer an Bord. Ein Amerikaner chinesischer Herkunft, um korrekt zu sein. In weißem Hemd und Bundfaltenhose ist er direkt aus dem Büro gehastet, um noch abends mit Freunden in New York zu feiern. Nur sein Mobiltelefon hat er dabei.

Tom Liu fährt das zweite Mal mit dem „Drachenbus“ und ist zufrieden. „Eigentlich gibt es keinen Unterschied zu Greyhound. Die Busse haben den gleichen Standard, stehen auch nur im Stau, sind aber fast zwei Drittel billiger.“ Der 24-Jährige, der in einer Beratungsfirma angestellt ist, kehrte vor einigen Wochen aus Hongkong zurück, kurz bevor die Lungenkrankheit Sars ausbrach. Er müsse einen persönlichen Glücksstern haben, sagt er. Letztes Jahr machte er Urlaub auf Bali, tanzte in jenen Diskos und Bars, die genau eine Woche nach seiner Abreise durch einen Terroranschlag zerstört wurden. Am Morgen des 11. September arbeitete er gegenüber der Börse an der Wall Street. Er sah das zweite Flugzeug in den zweiten Turm rasen. Neugierig ging er Richtung World Trade Center, als der erste Turm einstürzte. Eine Druckwelle aus Schutt und Staub wälzte sich auf ihn zu. Er versuchte davonzurennen. Plötzlich öffnete sich eine Tür und jemand zog ihn in ein Geschäft. Sekunden später verdunkelte sich die Straße. „Immer wenn ich in New York bin, gehe ich an dem Laden vorbei.“

Hinter Philadelphia schiebt sich auf der Nebenspur ein anderer weißer Bus vorbei. Über dem Fahrer hängt auch ein chinesisches Schild. Der Dragon-Express hat mittlerweile Konkurrenz bekommen. Schließlich steigt die Nachfrage ununterbrochen. Die rund 350 Kilometer lange Route zwischen Washington und New York ist die wichtigste Verkehrsachse der USA. Alle 30 Minuten pendeln Flugzeuge (100 Dollar), Amtrak-Züge (150 Dollar) und Greyhound-Busse (75 Dollar) zwischen den Metropolen. Es tobt ein bitterer Wettbewerb zwischen Verkehrsträgern und Unternehmen. „Dragon“ startete seinen Service 2001, bot ihn jedoch vorerst nur zu nachtschlafender Zeit. Zielgruppe: Arbeitsnomaden der beiden Chinatowns. Wer wollte auch sonst schon morgens um zwei mit chinesischen Putzfrauen, Köchen, Packern und Händlern reisen, die in einer der beiden Städte arbeiten, in der anderen wohnen?

Jema Cabrias wollte. Mehrere Mal hatte sich die 28-jährige Filipino-Kanadierin nachts müde zum Bus geschleppt, um ihren Freund in New York zu sehen. Damals hatte sie keinen Job und der Dragon-Express bot eine Alternative. Die ganze Fahrt dröhnte „seltsame“ chinesische Musik und es habe nach Garküche gerochen. „Es ist nicht mehr die gleiche Sache wie früher“, erzählt sie. Doch immer noch würden diese alten Geschichten kursieren. „Urbane Mythen“ nennt sie das. Lange Zeit hätte die Busverbindung ein Schattendasein geführt, bis irgendwann Mitte letzten Jahres Studenten und immer mehr Arbeitslose den Billigbus entdeckten. Dann erschien ein Artikel in der Washington Post, das junge Volk entdeckte den Bus und vorbei war es mit dem alten Charme.

Nicht ganz. Es ist Samstag sieben Uhr morgens. Das New Yorker Chinatown erwacht. Die ersten Rollläden rattern. Abfälle übersäen die Straße. Chinesische Zeitungsbündel liegen vor Hauseingängen. Einige alte Mütterchen sitzen auf Klappstühlen, schlürfen Nudelsuppe und bewachen Gemüsekisten. Es riecht nach Fisch. Plötzlich zerschneiden schreiende Frauenstimmen die Stille. „DC, here ticket, cheap.“ Wieder Ruhe. Dann erneut. Auf dem East Broadway unter der Manhattan-Brücke stehen sie dann neben den beiden Bussen. Zwei Frauenpaare, die um die Gunst der Reisenden wetteifern. Immer wenn jemand um die Straßenecke biegt, legen sie los. Sie wedeln mit den Armen, zeigen auf ihre Schilder und preisen in kargem Englisch die nicht vorhandenen Qualitätsunterschiede ihres Busunternehmens an. Besteht das Werben anfangs nur aus lautem Geschrei, gehen die zierlichen Frauen kurz vor Abfahrt auch zum körperlichen Angriff über. Sie versperren den Weg, zerren an Armen und drücken einem die Tickets fast ins Gesicht. Ellenbogenkapitalismus „Made in China“.

Ein großer Afroamerikaner zwängt sich in die engen Sitzreihen. Jedes Mal, wenn die Frauenstimmen ertönen, fängt er an zu lachen. „Ich mag dieses Ritual. So bleibe ich wenigstens wach.“ Er wohnt in Manhattan, arbeitet in Washington und lässt das Auto stehen, seit es den Dragon-Express gibt. Brücken-, Straßenzoll und Benzinkosten addieren sich zu weit mehr als 30 Dollar. „Ich wäre doch blöd, würde ich selbst fahren.“ Außerdem käme er damit viel entspannter nach Hause. Einer jungen Latino-Frau im Designerkleid geht das offenbar nicht so. „Nichts gegen Busse. Doch nächstes Mal nehme ich wieder den Greyhound. Auch wenn er teurer ist“, sagt sie, als sie in Washington aus dem Bus steigt. „Dieser Gestank und das Geschrei in New York – unerträglich.“