Die Liebe in Zeiten der Digitalkamera

„Mein wahres Leben in der Provinz“ als schöner Betrug: Olivier Duscatel und Jacques Martineau legen die Simulation eines dilettantischen Heimvideos vor und erzählen ganz nebenbei die wunderbare Geschichte eines Coming-outs

Wenn ein Film so unvermittelt anfängt wie dieser, dann ist die anfangs gestellte Frage nach dem Anfang durchaus berechtigt. „Geht’s schon los?“, möchte Etiennes Mutter Caroline wissen, als sie unsicher in die Digitalkamera glotzt, die Etienne soeben von seiner Großmutter zum 16. Geburtstag geschenkt bekommen hat.

Geht es also los? – Irgendwie schon. Wobei das Irgendwie kein nachlässiges Irgendwie ist, sondern ein hochgradig elaboriertes. Nach dem Erfolg ihres strahlenden Roadmovies „Felix“ hatten die Regisseure Olivier Duscatel und Jacques Martineau nämlich die Idee, einen Film zu drehen, der so aussieht, wie das, was ein 16-Jähriger mit einer Digitalkamera eben so anstellt. Mit all den Fehlern und Mängeln. Mit all den Überflüssigkeiten. Mit all den dummen Ideen. Dabei soll das, was Etienne filmt, sich nach Etiennes Ansprüchen eigentlich gar nicht zu einem Film zusammenfügen, sondern nichts weiter als ein Sammelsurium aus Erinnerungen, Experimenten und Inszeniertem sein.

Er filmt seine Mutter und seine Großmutter. Er filmt seinen besten Freund Ludovic. Er filmt einen Jahrmarkt. Die Stadt Rouen. Den Geografielehrer. Die Küste. Den Friedhof. Sich selbst. Nichts davon soll eine Handlung ergeben, es gibt keine Sinnzusammenhänge und keine Dramaturgie. Der Ablauf ist zwar chronologisch, doch die Zeitsprünge sind angesichts der wechselnden Haarlängen, der Hautbräune und des Wetters mitunter erheblich.

So ist „Mein wahres Leben in der Provinz“ einerseits die handwerklich einwandfreie Simulation eines handwerklich unzulänglichen Heimvideos. Andererseits jedoch – und das ohne dass der 16-jährige Hobbyfilmer davon wüsste – die Geschichte von Etiennes erwachender Sexualität, die sich vor allem darin bemerkbar macht, dass er seinen besten Freund und den Geografielehrer mit einer geradezu hingebungsvollen Ausdauer ins Visier nimmt.

Auch Bauarbeiter und Feuerwehrmänner geraten ihm derart häufig vor die Linse, dass er sich bald über sich selbst zu wundern beginnt und sich bei seinem Freund erkundigt, ob es möglich ist, dass sich ein Mann in einen anderen Mann verliebt. Eine Frage, die sich für ihn schon bald in Gestalt eines vorbeilaufenden Mannes beantworten wird, womit der Film – Digitalkamera aus! – dann ebenso unvermittelt endet, wie er begann. Was wiederum den Schluss zulässt, dass Etienne nun in guten Händen ist, endlich damit aufhört, Familie und Freunde mit seiner Dauerfilmerei zu terrorisieren, und sich von nun an ganz neuen, aufregenderen Interessengebieten widmet.

Da freut man sich mit. Was vor allem daran liegt, dass Duscatel und Martineau ein Film gelungen ist, der dank des ausgefeilt redundanten Drehbuchs und seiner wunderbaren Darsteller so authentisch daherkommt, dass man schon nach wenigen Minuten die Inszenierung des Ganzen vergisst.

Ein schöner, großer Betrug.

HARALD PETERS

„Mein wahres Leben in der Provinz“. Regie: Olivier Duscatel und Jacques Martineau. Mit: Jimmy Tavares, Jonathan Zaccai u. a. Frankreich 2002, 102 Minuten, OmU