„Ich war immer ein Außenseiter“

Gregor Gysi über sein preußisches Pflichtgefühl, die Angst vor Langeweile und über die Stärke seiner Distanz zur PDS nach deren Parteitag

Interview JENS KÖNIG

taz.mag: Sie haben so oft wie kaum ein anderer Politiker in den letzten zwölf Jahren vom Rückzug aus der Politik gesprochen, und keiner ist so oft freiwillig zurückgetreten wie Sie: 1993 als PDS-Vorsitzender, 2000 als Fraktionschef im Bundestag, 2002 als Wirtschaftssenator in Berlin. Haben Sie eine einfache Erklärung dafür?

Gregor Gysi: Es gibt eine Erklärung, die nicht gerade für mich spricht: Ich habe Angst davor, den richtigen Zeitpunkt für einen Absprung zu verpassen. Vielleicht ist das eine Schädigung, die ich aus der DDR mitschleppe. Ich möchte nicht zum Rücktritt gezwungen werden.

Politiker denken eher selten an Rücktritt. Warum ist das bei Ihnen anders?

Ich bin unbeständig. Ich beherrsche nicht die Kunst der Wiederholung. Ich kann mir einfach nie vorstellen, eine Sache ewig zu machen. Sobald ich mit ihr beginne, denke ich schon über ihr Ende nach. Aber wenn ich will, kann ich mich auch festbeißen.

Aber Sie wollen oft nicht?

Hören Sie, in der Politik bin ich von einem fast schon preußischen Pflichtgefühl geleitet worden. Ich bin nur einmal von einem Amt zurückgetreten, und das ungeplant – als Wirtschaftssenator von Berlin. Als Parteivorsitzender und als Fraktionschef bin ich nicht wieder angetreten. Auf diesen Unterschied lege ich großen Wert. Ich mag Rücktritte eigentlich nicht.

Sie und preußisches Pflichtgefühl?

Warum lächeln Sie? Wenn ich eine Aufgabe übernommen habe, spüre ich ein ausgesprochenes Pflichtgefühl. Da bin ich auch diszipliniert. Gerade weil ich das so empfinde, lasse ich mich, bevor ich meine Pflichten verletze, lieber von diesen Pflichten entbinden.

Sie sind intelligent. Vielleicht langweilen Sie sich einfach nur schnell.

Nein, ich habe nur Angst davor, in eine Situation zu geraten, in der ich mich langweilen könnte. Ich will darauf vorbereitet sein. Politiker, die sich mit sich selbst langweilen, werden überflüssig.

Das klingt so narzisstisch. Als gäbe es außer Ihrem stilisierten Selbstbild keine Außenwelt mehr, keine Verantwortung gegenüber Wählern oder der Partei.

Diesen Vorwurf muss ich mir nicht machen. Ich war über zwölf Jahre in der Politik, und bis auf die eine Ausnahme habe ich jedes Amt bis zum letzten Tag ausgefüllt. Und das, obwohl ich jahrelang persönlich gejagt worden bin. Da habe ich oft an Flucht gedacht. Ich wollte einfach nur noch weg. Ich hatte keine Lust mehr auf diese Art der Auseinandersetzung. Plötzlich kamen wildfremde Menschen auf mich zu. Sie hatten Tränen in den Augen und sagten: „Bitte halten Sie durch.“ Da bin ich regelmäßig sentimental geworden und habe es nicht fertig gebracht, aufzuhören.

Haben Sie diese Sentimentalität mit der Zeit verloren?

Heute sehe ich das rationaler. Schon bei meinem Rückzug im Jahre 2000 hatte ich nicht mehr das Gefühl, Leute im Stich zu lassen oder zu verraten. Das gilt ja auch andersrum. Viele Leute haben den Rückzug bedauert, aber sie fühlten sich nicht mehr persönlich verletzt.

Sind Sie ein Pflichtmensch?

In Situationen, in denen ich unsicher bin, lasse ich mich gern in die Pflicht nehmen. Ich schätze es dann auch, einen Chef zu haben, der mir sagt, wo’s langgeht. In Situationen, in denen ich mich sicher fühle, schätze ich beides weniger. Dann gehe ich gern meinen eigenen Weg.

Joschka Fischer vergleicht die Politik in Spitzenämtern gern mit einem Aufstieg auf einen Achttausender ohne Sauerstoffmaske. Dazu seien nur die wenigsten in der Lage, sagt er. Er meint: Fischer zum Beispiel. Über Sie macht er sich lustig. Fehlt Ihnen die Härte?

Bestimmt. Aber ich bedaure das nicht. Mich hat schließlich nur eine historische Ausnahmesituation in die Politik getrieben. Das hat es mir immer leichter gemacht – und schwerer.

Warum leichter?

Ich musste nicht durch die Mühen der Ebene. Schauen Sie sich doch heute die normale Politikerkarriere an: Schülersprecher, Parteiortsgruppe, Kreisparlament, stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Schon bevor die ganz oben sind, haben sie eine ganze Reihe unangenehmer Verhaltensweisen an den Tag legen müssen. Das macht hart und mitleidslos. Davon ist die Politik ja auch gekennzeichnet. Es gibt nichts Unglaubwürdigeres als Staatsbegräbnisse. Politiker trauern höchst selten.

Und warum war‘s für Sie schwerer?

Weil ich immer ein Außenseiter war. Leute wie Helmut Kohl und Joschka Fischer sind in ihrer Partei groß geworden, sie kennen sie in- und auswendig. Ich hingegen bin zwar 1967 Mitglied der SED geworden, war aber nie Mitglied einer Kreis- oder Bezirksleitung, geschweige denn des Zentralkomitees. Gerade deswegen bin ich 1989 ja Vorsitzender der SED geworden. Politisch, kulturell, von meinem Auftreten her – ich war atypisch für diese Partei.

Sie waren nie ein Parteisoldat?

Dazu eigne ich mich nicht.

War Ihre eigene Partei Ihnen immer etwas Fremdes?

Ich hatte immer eine gewisse Distanz zu ihr. Das war sogar nützlich. Diese Distanz war die Voraussetzung dafür, die PDS überhaupt erfolgreich verteidigen zu können. Ein Anwalt, der sich mit seinem Mandanten vollständig identifiziert, ist schlecht, weil er sich nur selbst verteidigt. Ich war mit der PDS immer solidarisch – aber ich war nie die Partei selbst.

Gysi, der clevere Anwalt, wollte kein „normaler“ Politiker sein?

Ich war in einer anormalen Zeit in politischer Verantwortung. Als sich die Zeiten normalisierten, dachte ich, ich sei jetzt nicht mehr so geeignet. Normale Zeiten erfordern einen anderen Typ von Politiker. Es ist nicht so, dass ich das nicht könnte. Aber es löst keine Leidenschaft in mir aus.

Sie brauchen Widerstand. Sie brauchen den großen Auftritt. In der DDR haben Sie nicht irgendwen, sondern Havemann und Bahro verteidigt, die größten Gegner des SED-Regimes.

Das war ja nicht meine eigene Entscheidung. Havemann und Bahro haben mich als ihren Anwalt ausgesucht. Aber es stimmt: Der Anwalt war in der DDR – neben dem Pfarrer – der Einzige, der legal einen gewissen Widerspruch äußern konnte. Das war sein Beruf. Ich musste mich als Verteidiger gegen den Staatsanwalt stellen. Gut möglich, dass ich diese Form der Auseinandersetzung gesucht habe.

Sind Sie in der Tiefe Ihres Herzens ein Spieler, dem die Politik immer auch Vergnügen bereiten muss?

Sie tun so, als sei ich immer den bequemen Weg gegangen. Es gab im Dezember 1989 in der DDR nichts Unpopuläreres, als Vorsitzender der SED zu werden.

Ihr Vater, Klaus Gysi, war auch ein Spieler.

Begrenzt. Außerdem habe ich aus dem spielerischen Umgang meines Vaters mit Ämtern etwas ganz anderes geschlussfolgert: Niemals wird ein Politbüro beschließen, dass ich meinen Posten zu räumen habe. Das beschließe ich schon selbst.

Von Ihrem Vater heißt es, er habe alles mit der linken Hand gemacht. Hat Sie das nicht geprägt?

Natürlich. Anders als locker könnte ich ein Amt gar nicht ausüben. Das ist natürlich nicht typisch für die deutsche Politik. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass das, was an dir zunächst geschätzt wird, weil es so ungewöhnlich ist, die Leute irgendwann nervt. Sie wollen normal sein, also auch normal repräsentiert werden.

Sind Sie von Ihren Eltern zu Pflicht und Disziplin erzogen worden?

Zur Disziplin nur begrenzt, zur Pflicht schon. Ansonsten hätte ich nie Anwalt werden können. Der Anwaltsberuf ist ein Beruf voller Pflichten, er verlangt auch Disziplin.

Ihr Vater war ein Lebemann und Frauenheld. Stefan Heym schrieb in seiner Autobiografie über Klaus Gysi: „Ein kleiner Jude mit klugen, dunklen Augen, geistreich, bei Frauen beliebt, ein Mann im Grunde, der an so gut wie nichts glaubt.“

Ich glaube nicht, dass Stefan Heym meinem Vater gerecht wird. Aber richtig ist: Mein Vater war kein Funktionärstyp.

Hat ihm das politisch geschadet?

Natürlich. Seine Karrieremöglichkeiten in der DDR waren immer begrenzt. Die Partei hat ihn benutzt, aber sie wollte ihn auch nicht zu nah bei sich haben. Es gab ein gewisses Misstrauen gegen ihn.

Aber Ihr Vater war nicht nur der geistreiche, witzige Intellektuelle. Dreimal ließ er sich in Krisensituationen vor den Karren der Partei spannen: 1957/58 im Aufbau-Verlag, als er Nachfolger von Walter Janka wurde, der zuvor verhaftet worden war. 1966, als er ein Jahr nach dem berüchtigten 11. Plenum den Posten des Kulturministers übernahm. Und 1979 wieder ein Krisenjob: Ihr Vater wurde Staatssekretär für Kirchenfragen.

Über diese Entscheidungen haben wir uns oft gestritten, wobei ich die Geschichte mit dem Aufbau-Verlag selbst nicht mitbekommen habe; damals war ich zu jung. Aber als 1966 Musik, Filme und Literatur verboten wurden, war ich auch persönlich davon betroffen. Ich war achtzehn, und es war mir peinlich, dass mein Vater gerade zu diesem Zeitpunkt Kulturminister wurde.

Haben Sie daraus für Ihre politische Karriere Konsequenzen gezogen?

Ja. Richtig unangenehme Rollen lasse ich mir nicht aufdrängen. Wenn ich den Rückhalt in der eigenen Partei verliere, lasse ich mich nicht zu einer Politik zwingen, die ich nicht für richtig halte. Als die PDS auf ihrem Parteitag in Münster 2000 die UN-Charta partiell ablehnte, spürte ich, wie ich die Lust auf weitere Auseinandersetzungen verlor. Ich hätte mich unterordnen und diese Position offiziell verteidigen müssen. Aber dazu hatte ich keine Lust.

Ihr Vater ordnete sich unter – um Schlimmeres zu verhindern, wie er sagte. Ist das eine deutsche Form von Disziplin und Pflichterfüllung?

Ich glaube, das würden andere Menschen in anderen Ländern in vergleichbaren Situationen auch für sich in Anspruch nehmen. Und wie immer ist dieses Motiv zur Hälfte wahr und zur Hälfte Ausrede. Natürlich haben nicht wenige in der DDR bestimmte Funktionen übernommen, um das eine oder andere zu verhindern. Aber natürlich leugnen sie damit auch, dass sie an ihrer Karriere interessiert waren.

Trifft das auch auf Ihren Vater zu?

Sicher, aber er hat auch für seine Ideale gelebt. Seine Biografie war durch das schwierige 20. Jahrhundert geprägt.

Hat Ihr Vater unter diesem dauernden Zwiespalt gelitten?

Zunehmend, aber nicht so, dass er daraus wirkliche Konsequenzen gezogen hätte. Charakteristisch für ihn war vielmehr, dass er sich nur ungenügend auf sein jeweiliges Amt einließ. Als er Verleger war, hat er versucht, Kulturpolitik zu machen. Als er Kulturminister war, hat er sich in die große Politik eingemischt. Als er Botschafter in Italien war, hat er versucht, die Beziehungen zwischen der SED und dem Vatikan zu klären. Das, was mein Vater gerade machte, genügte ihm nicht.

Spüren Sie eine Last, weil Sie sich für den Niedergang der PDS verantwortlich fühlen?

Warum überlegen Sie so lange?

Ich weiß keine Antwort. Vielleicht gibt es Momente, in denen ich diese Last spüre. Aber die sind selten.

Warum nur selten?

Weil in dieser Partei alle erwachsene Menschen sind. Ich muss mir abgewöhnen, eine Vaterrolle zu akzeptieren. Die PDS ist nicht mein Kind.

Aber Sie können nicht behaupten, dass Sie an der Bundestahlwahlniederlage der Partei im vorigen Jahr unschuldig sind.

Natürlich nicht. Aber an meinem Rücktritt ist die PDS nicht gescheitert. Die Partei hat an gesellschaftlichem Stellenwert verloren. Sie strahlt politisch und kulturell nicht mehr aus, dass sie die gesellschaftlichen Veränderungen zur Kenntnis nimmt. Sie benimmt sich wie vor zehn Jahren, als man die Menschen im Osten gegen existenzbedrohendes Unrecht verteidigen musste. Aber der Osten hat sich verändert.

Ist das passiert, weil Sie zu früh der PDS den Rücken gekehrt haben?

Irgendwann musste das geschehen. Aus heutiger Sicht kann man natürlich sagen, dass es zu früh war.

Hätten Sie aus Pflichtgefühl gegenüber der PDS länger bleiben müssen?

Nein. Mein Rückzug war doch auch ein Ausdruck von Veränderungen innerhalb der PDS.

Sie mussten gehen?

In gewisser Weise ja. Ich hatte an Einfluss verloren, auf dem Münster-Parteitag sind mir die Genossen nicht mehr gefolgt. Eine Mehrheit in der PDS glaubte damals, es geht auch ganz gut ohne Gysi. Nach dem Parteitag in Gera im vorigen Jahr dachten manche sogar, es würde der Partei nützen, wenn ich mich ganz zurückzöge. Der Emanzipationsprozess war von beiden Seiten gewollt. Das ist keine Frage von Schuld.

Würden Sie sich von der PDS noch mal in die Pflicht nehmen lassen?

Man darf sich nur in die Pflicht nehmen lassen, bei der man auch sicher ist, dass man sie erfüllen kann. Dazu gehört ein bestimmter Grad des Wohlfühlens. Ein Parteiamt werde ich nicht mehr übernehmen.

Aber Sie kokettieren damit, 2006 unter Umständen doch noch mal für den Bundestag zu kandidieren.

2006 ist weit weg. Ich weiß nicht, was in drei Jahren sein wird. Ich habe meinem Freund Lothar Bisky lediglich versprochen, dass ich heute diesbezüglich nichts ausschließe. Mehr nicht. Ich war zwölf Jahre im Bundestag. Glauben Sie mir, das reicht eigentlich für ein Leben.

Sie spüren keine Entzugserscheinungen, was die Politik angeht?

Erstaunlich wenig. Mich zieht nichts zurück in die Politik.

Wirklich? Vielleicht ist es ja so: Sie reden unaufhörlich, weil Sie Angst haben, mit dem Reden aufzuhören?

Da irren Sie sich. Ich kann loslassen. Ich brauche nicht die Öffentlichkeit.

Schwer zu glauben. Sie haben letzte Woche das erste Mal seit drei Jahren wieder auf einem PDS-Parteitag geredet. Das soll Zufall sein?

Natürlich ist es mir nicht egal, was mit der Partei passiert. Wir haben uns jedoch ein bisschen auseinander gelebt. Ich habe einen inneren Abstand zur PDS. Sie hat auf ihrem Sonderparteitag aber zumindest gezeigt, dass sie bereit ist, sich kulturell wieder zu verändern, dass sie auf die Menschen zugehen und Politik machen will. Wenn ihr das gelingt, dann könnte ich wieder sagen: Das ist meine Partei.

Vor dem Parteitag hätten Sie das nicht behaupten können?

Nein. Ich hätte keine Lust gehabt, mich zu verstellen.

JENS KÖNIG, 39, ist Leiter des taz-Parlamentsbüros. Er hat Gregor Gysi das erste Mal Ende 1989 auf dem SED-Sonderparteitag in der stickigen Dynamo-Sporthalle in Berlin-Hohenschönhausen erlebt. Für das taz.mag-Gespräch besuchte König Gysi vor einigen Tagen in dessen Anwaltskanzlei in Berlin-Charlottenburg