Tango, seine große Liebe

Eigentlich hatte er keinen Sinn für die musikalischen Identitäten seines Landes. Aber Herr Kaitila, Opernsänger aus Finnland, entdeckte sie, als er sein Land verließ: vor allem die nordische Variante des leidenschaftlichen argentinischen Tanzes. Ein Portrait

von HEIKE HAARHOFF

Es gibt Tage, da sitzt Harri Kaitila zehn Stunden am Schreibtisch und bringt nichts zu Papier. Zwischendurch steht er erschöpft auf, streunt ziellos durch seine Altbauwohnung in Berlin-Wilmersdorf, macht einen Ausflug ans Klavier, nimmt Platz, ertastet die Melodie, immerhin die ist ihm gewiss, hört sich selbst zu, wie er dazu singt, zwei Takte oder drei. Er konzentriert sich auf die Laute, die aus seinem Mund kommen, finnische Tenorlaute. Sie sind ihm vertraut, wie einem Laute vertraut sind, in denen man die ersten Geschichten des Lebens erzählt bekommen hat. Umso schwieriger, für sie Worte in einer Sprache zu finden, die seit Jahren seine Arbeitssprache ist: Deutsch.

Harri Kaitila sagt: „Finnischen Tango zu übersetzen, das ist keine Welt zum Vorbeigehen. Es ist eine Welt, in der man verweilen möchte. Es ist Schwerstarbeit.“ Zumal Übersetzer eigentlich gar nicht sein Beruf ist. Harri Kaitila aus dem Dorf Laitila nahe der Südwestküste Finnlands ist vielmehr ausgebildeter Operntenor.

Er war sechs Jahre alt, als er seine Stimme zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Eine Tante hatte zu Weihnachten ein Aufnahmegerät mitgebracht. Anfang der Sechzigerjahre war das in der finnischen Provinz eine Seltenheit. Die Tante überzeugte ihren Neffen davon, wie schön er die Weihnachtslieder singen konnte. Das Erlebnis muss prägend gewesen sein. „Bei uns zu Hause gab es sonst kaum Musik“, sagt Harri Kaitila.

Er sitzt in seinem Wohnzimmer in Berlin, ein paar schlichte Sessel, das Klavier, im Zimmer nebenan saugt die Putzfrau. Er hat selbst nicht gedacht, dass er hier landen würde und sein Geld verdient mit Tangoübersetzungen und Tangokonzerten, gutes Geld, ausgerechnet mit finnischem Tango, dieser exotischen Nischengattung, die er in eine noch exotischere Nische gelenkt hat, indem er die finnischen Texte ins Deutsche überträgt. Kulturtranslation nennt er das. Zwei CDs sind bereits im Handel erhältlich. Ihr Absatz ist mit mehreren tausend Exemplaren in nur drei Jahren recht ordentlich.

Es gehe ihm auch darum, sagt Harri Kaitila, über die Geschichten, die der Tango erzählt, das Finnlandbild in Deutschland zu verändern. Zu zeigen, dass seine Heimat mehr ist als eine verlassene Benzintankstelle in verlassener Landschaft, wo Aki Kaurismäki einen alten Lada zum Tanken halten lässt. Aber dazu muss er übersetzen.

Französische Chansons verstehen viele noch dank ihres Schulunterrichts, beim spanischen Flamenco ist der Tanz oft ausdrucksstärker als die Worte. Aber finnischer Tango? „Viele wissen gar nicht, dass Tango in Finnland kein Spleen einiger weniger ist, sondern Teil unserer Identität und Geschichte.“

Als der Tango – ursprünglich von europäischen Auswanderern, die Ende des 19. Jahrhunderts in Südamerika Fuß zu fassen suchten, als Ausdruck ihres Heimwehs kreiert – 1913 nach Finnland zurückkehrte, erkannten viele Finnen in der Musik eine Parallele zur eigenen Befindlichkeit: Sie besaß die gleiche Leidenschaft, mit der die Finnen gern über die russischen Herrscher gewehklagt hätten, die sie in Worten aber nicht auszudrücken vermochten.

Tango diente vielen als Überlebensstrategie. Ähnlich verhielt es sich 1939/1940 während des Überfalls des inzwischen unabhängigen Finnland durch die UdSSR, während des so genannten Winterkriegs. Die finnische Regierung hatte bei Strafe das Tanzen verboten, und wieder einmal drückte eine Nation ihre Gefühle über den Tango aus: Komponieren war ja noch erlaubt.

Auch während der anschließenden Kriege gegen die UdSSR beziehungsweise gegen Deutschland waren es Tangolieder, mit denen viele Familien ihre Soldaten an der Front via Radio grüßten. In ihren Briefen dagegen blieben die Finnen eher wortkarg. Ohne diese Erfahrung, glaubt die finnische Journalistin und Tangoforscherin Maarit Niiniluoto, hätte sich der Tango in Finnland bis heute nicht als fester Bestandteil innerhalb der Volksmusik etablieren können.

Die Gefühle von Schmerz, Melancholie, Verlust geliebter Menschen sowie der Wunsch nach Frieden, Liebe und nationaler Einheit müssen in der deutschen Übersetzung natürlich mitschwingen. Die Artikel, Fälle und Präpositionen, die im Finnischen einfach ans Wortende gehängt werden und im Deutschen so viele Silben verschlingen, sind dabei das geringste Problem. Harri Kaitila, der schon zu Schulzeiten ein Faible für die deutsche Sprache hatte und seit zwanzig Jahren mehr oder weniger ständig in Deutschland und Österreich gelebt hat, fürchtet Grammatik und Satzbau wenig.

Irgendwie reimt es sich am Ende ja doch meistens, und wenn nicht, dann kann er hinterher beim Singen durch ungewöhnliche Betonung noch einiges herausholen. Aber ein Reim macht noch keine Geschichte, und ohne die, sagt Harri Kaitila, ist ein finnischer Tango kein finnischer Tango: „Natürlich achte ich darauf, dass die Originalstimmung erhalten bleibt, aber wenn man Poesie übersetzt, entsteht zugleich ein neues Werk.“ Es ist nicht so, dass der finnische Tango bloß ein Abklatsch des argentinischen wäre, den man schlicht in eine wundersame Sprache mit vielen offenen Vokalen übertragen hätte. Finnischer Tango ist einerseits langsamer, ruhiger, getragener, verhaltener als das südamerikanische Original. Nordischer vielleicht, könnte man sagen.

Aber der entscheidende Unterschied ist wohl seine Botschaft. Geht es im argentinischen Tango meistens um die Verletzung männlicher Ehre, die mit Rache an dem Nebenbuhler gesühnt werden muss (frei nach dem Motto „Du hast mir meine Geliebte ausgespannt, also stirb“), so stehen beim finnischen Tango stilles Leiden und Melancholie bar jeder Aggressivität im Vordergrund (hier lautete das Motto wohl: Du hast mir meine Geliebte genommen, so werde ich denn vor Kummer sterben).

Für Harri Kaitila war der Weg zum Tango nicht vorgezeichnet. Seinem Vater wäre es am liebsten gewesen, sein Sohn wäre Bauer geworden. So wie die Söhne der Generationen davor auch. „Ich bin der einzige Sohn. Ich habe nur noch zwei ältere Schwestern. Meine Eltern haben lange auf mich gewartet“, sagt Harri Kaitila, streicht sich über den blonden Oberlippenbart und lächelt. Er wird in diesem Herbst 44 Jahre alt. Vielleicht auch ein bisschen älter.

„In der Opernbranche darf man sich ruhig bis zu fünf Jahre jünger machen, als man tatsächlich ist“, sagt er, „ich jedoch bin für höchstens zwei oder drei Jahre“, und sein Lächeln wird verschmitzt. So verschmitzt, dass die Vorstellung schwer fällt, wie er auf dem Traktor entlang finnischen Kornfeldern fährt. Dabei hätte sich Harri Kaitila beinahe in sein Schicksal gefügt.

Sicher, er hatte bei lokalen und regionalen Gesangswettbewerben bereits als Jugendlicher und junger Erwachsener mit seiner Tenorstimme, die selbst mittelgroße Konzertsäle problemlos ohne Mikrofon füllt, Preise gewonnen. Aber deswegen gleich professioneller Tangomusiker werden? „Es gibt in Finnland so viele Tangokönige, dass man fürchten muss, die Kronen könnten eines Tages knapp werden.“

Dem Tangofieber, das in Finnland inzwischen als Exportartikel vermarktet wird wie andere nationale Symbole (Sauna, Handys), konnte er, solange er zu Hause lebte, wenig abgewinnen. Und wenn ausländische Besucher des finnischen Außenministeriums in Helsinki von den dortigen Mitarbeitern schon mal mit einem spontanen Tangotänzchen begrüßt werden, weil Tangotanzen angeblich „eine nationale Pflicht“ eines jeden Finnen ist, dann ist das womöglich nicht die Welt, in der Harri Kaitila sich und seine Kunst einordnen würde. „Wenn man zu nah an einer Erscheinung dran ist, kann das Interesse nicht entstehen.“

Am 6. Januar 1983, es war sein Namenstag, flog Harri Kaitila mit einer Maschine der Interflug über Ostberlin nach Wien. Es war seine erste große Auslandsreise. Sein Gesangslehrer hatte ihm geraten, bei der Wiener Musikhochschule vorzusingen. Daraus wurden sieben Jahre. In Wien hat Harri Kaitila auch seine Frau kennen gelernt, die ebenfalls klassische Sängerin ist und auch aus Finnland kommt.

In dieser Zeit erwachte aber sein Interesse am Tango noch nicht, sondern erst in Berlin, vor etwa vier Jahren: „Man braucht die Distanz zur eigenen Kultur, damit neue Ideen wachsen können.“ Opern, das fand er schnell heraus, waren nicht sein Ding: „Man muss singen, was einem vorgelegt wird, auch dann noch, wenn man halb tot ist.“ Die Kaitilas zogen nach Berlin, pendelten zeitweilig zwischen Finnland und Deutschland; Harri Kaitila begab sich ans Übersetzen.

Und er hat erreicht, was er wollte. Seine Auftritte auf Lesebühnen, in Kaffeehäusern, in kleinen Sälen, immer zusammen mit dem russischen Pianisten Dmitri Pawlow – „schließlich und endlich“, sagt Harri Kaitila, „haben die russische und die finnische Seele doch einiges gemeinsam“ –, sind in erster Linie Konzerte und keine Tanzveranstaltungen: „Heute bin ich in Deutschland bekannter als in Finnland.“

Vielleicht gibt ihm das die Gelassenheit, in diesem Juli erstmals bei Finnlands Tangofestival in Seinäjoki an der finnischen Westküste aufzutreten. Bislang hatte er den Tango-Markkinat, der seit achtzehn Jahren jeden Sommer mit hunderttausenden von Besuchern stattfindet, wegen dessen kommerziellen Charakters gemieden. Es ist nicht das einzige Zugeständnis, dass Harri Kaitila seiner alten Heimat macht: Im Herbst wird die inzwischen vierköpfige Familie vorerst nach Finnland zurückziehen.

Frau Kaitila übernimmt die Abteilungsleitung Gesang an der Fachhochschule in Helsinki; den beiden Töchtern haben sie versprochen, dass sie einen Hund bekommen, wenn sie beim Wegzug aus Berlin kein Theater machen.

Vielleicht, sagt Harri Kaitila, ist nach fast zwei Jahrzehnten freiwilligen Exils die Zeit für die Rückkehr in die Heimat auch gekommen. Er hat dazu neulich gerade einen Tango aufgenommen: „Irgendwo an irgendeinem Ort der Welt / wo du gerade bist / wo dich der Zufall hingestellt / irgendwo an irgendeinem Tag im Jahr / wird dir auf einmal klar / dass es die große Liebe war.“

HEIKE HAARHOFF, Jahrgang 1969, Europareporterin der taz, liebt schwermütige Musik überhaupt – und finnischen Tango ganz besonders: „Er ist so fern jeder Feurigkeit“