Diese Theoreme arbeiten noch

Teddy, der Inkommensurable (7): Mit verbundenen Augen, so Theodor W. Adorno, muss sich ein Künstler in die Gestaltung eines Kunstwerks stürzen. Aber welche aktuellen Erkenntnisse kann der Kunststudent von heute noch aus seiner „Ästhetischen Theorie“ ziehen? Ergebnisse eines Lektürekurses

von ISABELLE GRAW

Statt wie gewohnt für mein in der Frankfurter Städelschule stattfindendes Seminar eine lange Literaturliste aufzugeben, wollte ich einmal nur ein Buch – und was für eines – mit den Kunststudent/innen lesen: Adornos „Ästhetische Theorie.“ Alle zwei Wochen haben wir uns zum „Lektüre-Seminar“ getroffen und Seite für Seite durch den Theorie-Steinbruch gekämpft. Erst nach drei Semestern kam der Eindruck auf, man habe sich ein wenig eingelesen, sich an Adornos Rhetorik, seine apodiktische, sentenzenhafte Sprache, seine Vorliebe für spiralenhaft gesteigerte Paradoxa und aporetische Konstruktionen gewöhnt.

Zugleich war immer klar, dass diese Lektüre eine grundsätzliche Überforderung – und zwar aller Beteiligten – darstellen würde. Eine Überforderung, die allerdings bewusst im Kauf genommen wurde. Es gab Textstellen, die letztlich rätselhaft und unverständlich blieben und für die eine „Technik des Überlesens“ entwickelt werden musste. Andere erschienen uns so gelungen und treffend formuliert, dass wir sie einander vor lauter Begeisterung laut vorlasen und uns ihrem Sound überließen.

Nun: Welche Erkentnisse kann der Kunststudent/die Kunststudentin von heute aus der Lektüre der „Ästhetischen Theorie“ gewinnen? Wo doch Adorno, wenn er von Kunst spricht, stets Musik meint und von einer Philosophie der neuen Musik ausgeht? Dieses Problem ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen, zumal die aus der bildenden Kunst herangezogenen Beispiele in diesem, ohnehin nicht gerade durch Anschaulichkeit gesegneten Text eher selten sind. Er sperrt sich prinzipiell gegen eine Art des instrumentellen Zugriffs, welche die Überlegungen Adornos etwa auf zeitgenössische Kunst anwenden wollte, aber darin liegt auch einer seiner entscheidenden Vorzüge: Jeder Versuch, daraus griffige Formeln für die aktuelle Kunstproduktion zu gewinnen – und solche Versuche kennzeichnen das Verhältnis der zeitgenössischen Kunstkritik zur Theorie im Allgemeinen –, wird sich an den für die „Ästhetischen Theorie“ ja konstitutiven Widersprüchen die Zähne ausbeißen.

Die ästhetische Debatte

Dafür bietet sie die Gelegenheit, sich durch die ästhetische Debatte par excellence durchzuarbeiten. Denn sämtliche Motive der zeitgenössischen Kunstproduktion und Kunstkritik finden sich hier verhandelt, angefangen von der Form-Inhalt-Debatte bis hin zur Frage nach dem Stellenwert von „Ausdruck“ oder subjektiver Erfahrung: Motive, die nach wie vor diskutiert werden und „arbeiten“, Was Adorno zudem interessant macht, ist die Tatsache, dass er eine Produktionsästhetik entworfen hat, die vom Vorrang des Objekts ausgeht, welches nur „von innen her“ zu erkennen sei.

Die Probleme einer „normativen Ästhetik“ mal beiseite gelassen, scheint mir dieses Postulat durchaus bedenkenswert, und zwar aus aktuellem Anlass. In weiten Teilen der Kunstkritik hat man sich angewöhnt, über die Objekte hinwegzugehen oder von ihnen abzusehen. Schon bei der bloßen Durchsicht einiger Feuilleton-Rezensionen oder einschlägiger Pressetexte der Kunstinstitutionen wird man diese Tendenz zum Überspringen der Objekte feststellen. Wie zur Entschädigung werden ihnen dann jede Menge Absichten, Themen oder Inhalte unterstellt, die jedoch in ihnen selbst kaum festgemacht werden.

Nicht, dass sich Adorno mit seinem Insistieren auf „immanentem Nachvollzug“ keine Probleme eingehandelt hätte. Doch im Vergleich zur begeisterten Kurzschlüssigkeit, mit der die Kunstkritik dieses Jahr Santiago Sierras so schlichte wie sensationsheischende Geste auf der Venedig Biennale (Schließung des Pavillons für Nicht-Inhaber der spanischen Staatsangehörigkeit) für ihre angebliche Thematisierung von Ein- und Ausschluss in den Himmel lobt, nehmen sich diese Probleme noch geringfügig aus. Adorno setzt zum Beispiel einen connaisseurhaften Betrachter voraus, der die Fähigkeiten zum Einstieg in die Logik des Kunstwerks einfach besitzen muss. Die immanente Logik des Kunstwerks wird ebenfalls als gegeben angesehen – so, als müsse man ihr nur noch auf die Spur kommen. Was zu kurz kommt, ist die performative Leistung des Betrachters und die für jede ästhetische Vermittlung ja konstitutiven Projektionen, Verkennungen und Verzerrungen. Man könnte die „Ästhetische Theorie“ von daher als Ausdruck einer Sehnsucht nach dem im Werk sedimentierten „Künstlerwissen“ (Tom Holert) verstehen, wenn es nicht sogar darum geht, sich dem Objekt anzuschmiegen, ihm ähnlich zu werden. Schließlich hat dieses Buch selbst etwas von einem Kunstwerk.

Eines der Hauptthemen der „Ästhetischen Theorie“ ist künstlerische Autonomie, wobei die Aktualität meines Erachtens darin liegt, dass er nicht nicht-restriktiv ist. Das heißt, dass unausgesetzt Nachweise für die Eigengesetzlichkeit der Kunst erbracht werden, ohne dass sie deshalb in eine abgeschlossene Sondersphäre verbannt würde. In einer berühmt gewordenen Formulierung ist von ihrem „Doppelcharakter“ die Rede – fait social und autonomes Gebilde zugleich. Kunst verlässt den Bereich der Erfahrung und funktioniert prinzipiell anders als die Welt des instrumentellen Geistes (auch dann noch, könnte man ergänzen, wenn diese Welt von ihr wie in der Konzeptkunst mimetisch angezapft wird). Zugleich sind ihre Produkte aber auch gesellschaftlich bestimmt.

Das autonome Werk

So abstrakt-schematisch dieses Postulat eines Doppelcharakters auch anmutet, konnten wir doch viel mit ihm anfangen: zum Beispiel gegen den Evaluierungsdruck argumentieren, dem sich deutsche Kunsthochschulen derzeit ausgesetzt sehen. Und zwar ohne sich dabei auf die konservative Seite der zähen Verteidiger des Meisterklassensystems zu schlagen. Forderungen wie denen, das Fach „freie Kunst“ endlich überprüf- und messbar zu machen, könnte man adornitisch mit dem Postulat begegnen, dass sich weder die Kunst noch die Ausbildung zum Künstler nach Effizienzkriterien bemessen lassen. Die Kriterien sind eben andere.

Was nicht heißt, dass sie nicht situativ benennbar wären. Statt also Kunst und Gesellschaft frontal gegeneinander in Stellung zu bringen und künstlerische Autonomie zu totalisieren, wie es die Verteidiger des Meisterklassensystems tun, wäre mit Adorno daran zu erinnern, dass Gesellschaft durchaus in die Kunst hineinragt, ökonomisches Rentabilitätsdenken jedoch nur wenig über Kunst oder künstlerische Ausbildung auszusagen vermag.

Doch wie genau tritt Gesellschaft bei Adorno in die Kunst hinein? Durch das künstlerische Material: Es schleppt Gesellschaft gleichsam mit. Gesellschaftlicher Prozess und Bewegung des Materials sollen sich auf geradezu magische Weise entsprechen. Immer dann, wenn Kunst ein besonders hohes Maß an formaler Durcharbeitung erreicht, soll Gesellschaft in ihr aufscheinen. Für Adorno hatte dieses Modell den Vorteil, dass es den Kuchen zu behalten und zugleich zu essen erlaubt. Weder der Autonomiegedanke noch der des gesellschaftlichen Bezugs müssen in ihm preisgegeben werden. Das eine wird vielmehr zur Möglichkeitsbedingung des anderen. Die Annahme einer Korrespondenz zwischen Kunst und Gesellschaft ist also zentral, ohne dass jedes Mal klar würde, wie man sich diese Vermittlung im Einzelnen vorzustellen hat. Dass sich Adorno diesbezüglich eher zurückhaltend verhält, hat aber auch etwas mit seiner Aversion gegen Inhaltsfixierung oder jegliche Reduktion auf „Bedeutung“ zu tun – eine Skepsis, die angesichts reflexhafter Verkürzungen auf Bedeutung in der Kunstkritik durchaus wieder ihre Berechtigung hat.

Im Griff des Materials

Am ausführlichsten haben wir uns jedoch mit Adornos Formulierung auf Seite 175 der Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe beschäftigt, wonach sich ästhetische Rationalität mit verbundenen Augen in die Gestaltung hineinstürzen müsse, anstatt sie von außen, als Reflexion, über das Kunstwerk zu steuern. Es gibt also die Möglichkeit, sich seinem Material zu überlassen, wobei Adorno darauf beharrt, dass man dabei auf der Höhe eines als gegeben vorausgesetzten Materialstandes sein müsse. Auf dieses Problem, dass Adorno in einer gegebenen Epoche nur ein Material habe anerkennen können, ist oft genug hingewiesen worden.

Brauchbarer hingegen scheint sein Subjektentwurf. Das Künstlersubjekt sieht er als stark und schwach zugleich an: Um sich überantworten zu können, bedarf es einer gewissen Stärke. An anderer Stelle äußert er den Gedanken, dass man dem folgen müsse, wohin es die Hand ziehe.

Nichts könnte mehr im Widerspruch zur derzeit verbreiteten Auffassung stehen, dass Künstler rationale, zielorientierte Subjekte seien, die strategisch operieren. Mit Adorno ließe sich dagegen zu bedenken geben, dass das Material möglicherweise doch bestimmte Automatismen nach sich zieht, Effekte, die man sich mit ihm quasi einhandelt. Oder sitzt man mit diesen Überlegungen einer protomodernistischen Mystifikation auf?

An diesem Punkt des Adorno-Seminars setzte dann doch das Nachdenken über die eigene künstlerische Praxis ein. Wir stellten fest, dass unter Kunststudent/innen derzeit die Auffassung herrscht, man müsse jeden Aspekt seines „Projekts“ gründlich recherchieren und begründen. Das sind die Nachwirkungen des Erbes der Konzeptkunst beziehungsweise eines Missverständnisses von ihr. Zwar gehörte das bürokratische Umsetzen von Plänen zum programmatischen Selbstverständnis zahlreicher Konzeptkünstler. Nur erschöpften sich die Arbeiten etwa eines Sol Le Witt nicht darin.

Hätte Adorno eine Kunst, die jeden ihrer Schritte zu rechtfertigen vorgibt und radikale Subjektkritik übt, überhaupt goutieren können? Wohl kaum. Dafür waren seine Abneigung gegen „Rezepte“ und „Konventionen“ wie auch sein Glaube an die Souveränität des Subjekts viel zu ausgeprägt. Als Kompromiss schwebte uns am Ende eine Produktionsästhetik vor, bei der die Hingabe an das Material Ergebnis einer gezielten Versuchsanordnung wäre. Augenblicklich experimentieren wir mit „écriture automatique“.