Wie im Panoptikum

Mit Liebe zu den Verlorenen: Vor hundert Jahren ging Henriette Arendt als erste Frau in Deutschland in den Polizeidienst, in Schwesterntracht. Die Chronik einer langwierigen Anerkennung

von PIA GRUND-LUDWIG

1903, im Stadtpolizeiamt der württembergischen Hauptstadt Stuttgart. Die 29-jährige Krankenschwester Henriette Arendt erhält ihre Dienstkleidung. Die Schwesterntracht entspricht ihrer Ausbildung, aber nicht unbedingt ihrer neuen Aufgabe: Sie pflegt künftig keine Kranken mehr, sondern geht als erste Frau in Deutschland in den Polizeidienst. Als Polizeiassistentin versieht sie keinen gewöhnlichen Streifendienst, sondern kümmert sich ausschließlich um straffällig gewordene Frauen. Sie ist „eine Vertreterin der menschlichen Fürsorge gegenüber der Unterwelt der Frauen“, wie der Reichstagsabgeordnete Friedrich Naumann die Arbeit von „Schwester Henny“ beschreibt.

Die Fürsorge übernehmen um die Jahrhundertwende auch bürgerliche Frauenhilfsvereine, doch Arendt hält sich nicht an deren unausgesprochene Übereinkunft, in Demut und Stille Wohlfahrt zu betreiben. Sie klagt öffentlich Kinderhandel an und weist auf die sozialen Ursachen der Prostitution hin. Damit stößt sie auf Widerstand.

„Als ich in meiner Eigenschaft als Polizeiassistentin dem Kinderhandel energisch zu Leibe rücken wollte“, berichtete Henriette Arendt später, „bezeichnete der zweite Bürgermeister der Stadt Stuttgart mein Vorgehen als taktlos, da es die Stadt Stuttgart in Verruf bringe, erklärte den Kinderhandel als bekannte Misère und verlangte ausdrücklich, dass die Arendt vom Stadtpolizeiamt so mit Arbeit überhäuft werden sollte, dass sie keine Zeit mehr finde, den Inseraten in den Tageszeitungen nachzugehen, und solche taktlosen Dinge, wie die Aufdeckung des Kinderhandels, zu treiben.“

Noch während ihrer Dienstzeit beschrieb Henriette Arendt ihre Klientel, vor allem Prostituierte und Diebinnen, in dem Buch „Menschen, die den Pfad verloren“. Vor allem mit dem Auftreten ihrer männlichen Kollegen den Prostituierten gegenüber geht Arendt hart ins Gericht: „Je vornehmer die Dirne und besonders je vornehmer ihre Kundschaft ist, um so weniger wird sie von der Polizei belästigt, während die heruntergekommene Kellnerin, die armselige, in Fetzen dahinschreitende Fabrikarbeiterin eine leicht zu erhaschende Beute für jeden Schutzmann ist.“

Bisweilen wartet die Polizeiassistentin nicht auf behördliche Entscheidungen, sondern handelt selbst. So hält sie ein „Vorasyl“ für notwendig, um Frauen in Notsituationen, etwa nach der Entlassung aus dem Gefängnis, schnell zu helfen. Doch da die Einrichtung dieses Vorasyls auf sich warten lässt, nimmt Arendt die Frauen in ihrem Zimmer auf und versorgt sie auf eigene Kosten mit Nahrung und Kleidung. „Zur Fürsorge war ich angestellt worden, aber die Hauptsache, die Mittel dazu, gab man mir nicht“, klagt sie in ihrem Bericht „Erlebnisse einer Polizeiassistentin“.

Obwohl aufmüpfig und eigensinnig, hielt Arendt die Auseinandersetzungen mit den Kollegen und der Bürokratie nur sechs Jahre aus. „Scheinbar haben Bürokratismus und Pietismus in diesem Kampf gesiegt“, lautete ihr Fazit.

Im von britischen Truppen nach dem Ersten Weltkrieg besetzten Köln wurde 1923 eine „Frauen-Wohlfahrtspolizei“ geschaffen. Josephine Erkens war zunächst Leiterin der neuen Frauenpolizei. Wie die meisten ihrer Kolleginnen war sie als Fürsorgerin ausgebildet. Später wechselte sie nach Frankfurt und 1927 zum Aufbau einer weiblichen Polizei nach Hamburg.

Erfahrungen in der Sozialarbeit blieben auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Voraussetzung für Frauen bei der Polizei. „Wir haben bei Henriette Arendt angeknüpft, aber unter sehr viel leichteren Bedingungen“, bilanziert Christa Blanz-Gocht, die 1961 in Baden-Württemberg die Grundausbildung als Polizistin antrat. Schnell wurde ihr klar, dass dieser Einbruch in die Männerwelt noch immer eine Provokation darstellte, auf die sie als Tochter aus gutem Hause nicht vorbereitet war: „Ich war beklommen von oben bis unten“, erinnert sich die Pensionärin an die Zeit ihrer Grundausbildung, die sie als eine von drei Frauen mit dreihundert Männern absolvierte. „Wenn wir Frauen ins Klassenzimmer kamen, sind wir fünf Minuten lang Spießruten gelaufen. Ich weiß nicht, wie oft die uns nachgerufen haben: ‚Fräulein, Sie haben eine Laufmasche!‘ Anfangs saß ich oft heulend auf der Bettkante und wollte zurück.“

Auch ihre Eltern waren zunächst entsetzt über die Berufswahl der Tochter. „Erst als sie merkten, dass es mir wirklich Spaß macht, waren sie stolz auf mich“, so Blanz-Gocht heute. Neuen Bekannten gegenüber jedoch verschwieg sie als junge Frau ihren Beruf, wenn es sich irgendwie machen ließ: „Ich wollte nicht ständig wie im Panoptikum bestaunt werden.“ In den Sechzigerjahren waren berufstätige Frauen selten genug, Kriminalerinnen eine verschwindende Minderheit.

An den Aufgaben der Polizistinnen hatte sich im Vergleich zu den ersten Jahren wenig geändert: Frauen waren nach wie vor keine „normalen“ Beamtinnen, sie mussten zuerst Sozialarbeit studieren und konnten dann ausschließlich zur WPK, der Weiblichen Kriminalpolizei. Bis in die Siebzigerjahre hinein war diese Abteilung lediglich für Kinder und junge Mädchen zuständig. Dann wurden die Spezialabteilungen aufgelöst und in Jugenddezernate überführt. Damit änderten sich auch die Aufgaben und die Motivation der Frauen, die sich für diesen Beruf entschieden.

Für die Polizistinnengeneration von Christa Blanz-Gocht war klar, dass sie an der Schnittstelle zwischen Sozial- und Kriminalarbeit tätig sein würden: „Mein Berufswunsch war Sozialarbeiterin, ich wollte mit Kindern und Eltern arbeiten.“ Für Silvia Barth, die 1978 als Kriminalbeamtin den Dienst antrat, war ihre Arbeit „einfach ein interessanter Beruf, in dem ich mich für eine gerechtere Welt einsetzen wollte und in dem man mit allen Dingen des Lebens konfrontiert wird“. Eigentlich standen ihr nach der Auflösung der WKP alle Wege offen, de facto jedoch kamen zunächst alle Frauen, die zeitgleich mit ihr eingestellt wurden, in die Jugenddezernate.

Viel einfacher war anscheinend auch das Verhältnis zum anderen Geschlecht seit den Sechzigerjahren nicht geworden. „Bei einem Frauenanteil von drei Prozent wird man sehr genau beobachtet, das ist anstrengend und manchmal unangenehm“, beschreibt Barth ihren Berufsalltag der ersten Jahre. „In den ersten Jahren wurde ich häufiger als Assistentin oder Protokollführerin angesehen, oder meine Kollegen wurden gefragt, ob ich die Fotografin sei.“

„Mittlerweile hat sich jeder daran gewöhnt“, sagt Caroline Wedler-Krebs auf die Frage, ob sie sich besonders beobachtet fühle. Sie ist die einzige Frau, die in Baden-Württemberg ein Polizeirevier der Schutzpolizei leitet. Damit ist sie in eine der letzten Männerdomänen vorgestoßen, denn erst seit Ende der Achtzigerjahre nimmt die Schutzpolizei Frauen auf. „Am Anfang gab es viel Ablehnung, auch Zweifel an unserer Qualifikation und die Haltung: ‚Auf euch muss man doch nur aufpassen!‘“ Doch das habe sich gelegt, besonders in ihrer jetzigen Position habe sie eher Neugier als Ablehnung gespürt.

Die gläserne Decke allerdings, die den Aufstieg der Frauen verhindert, sei trotz einzelner Frauen in leitenden Positionen bis heute spürbar: „Wenn ich mit jungen Kolleginnen spreche, höre ich immer, das Schöne in unserem Beruf sei die Gleichberechtigung. Aber wenn es um die Endstufen der Karriereleiter geht, hört diese Gleichberechtigung auf.“ Eine Voraussetzung für den Aufstieg sei die dienstliche Beurteilung, und die werde bei Frauen erkennbar negativer, wenn es um Führungsjobs geht. Für sie selbst sei diese gläserne Decke nicht da gewesen, betont Silvia Barth, sie könne sich aber vorstellen, dass viele Frauen Schwierigkeiten haben, sich auf den hierarchischen und beinahe militärisch strukturierten Aufbau der Polizei einzulassen.

Auch Familie und Kinder sind immer noch ein Handicap. „Wenn man an der Spitze eines Dezernats stand, konnte man sich keine Kinder leisten“, resümiert Christa Blanz-Gocht, die als Leiterin eines Dezernats für Sexualdelikte eine sehr exponierte Stellung besaß. Für die nachfolgende Generation ist ein solcher Verzicht auf Familie nicht mehr selbstverständlich: Caroline Wedler-Krebs wird demnächst in Mutterschutz gehen und kehrt in Teilzeit auf den alten Job zurück. Für sie, sagt sie, sei die Arbeit spannend, aber eben nicht das ganze Leben.

Das ist der wohl größte Unterschied zur Polizeipionierin Henriette Arendt. Die beschrieb ihren Beruf noch pathetisch als „Rettungsarbeit, die mit nie versagender Geduld, mit immer neuer Hoffnung und inniger Liebe zu den Verlorenen zu verrichten ist“. Solchen Ansprüchen mag heute niemand mehr genügen müssen.

PIA GRUND-LUDWIG lebt als freie Autorin in Tübingen und schreibt vor allem über Arbeitsbedingungen von Frauen sowie Informationstechnologie