Zu viele Kapitäne in dieser Welt

Eigene Wege verboten: Die Bayreuther Festspiele 2003 begannen mit einer überraschend neuen Lesart von Wagners „Fliegendem Holländer“ als fein gesponnenes Drama von der Unfreiheit der Töchter. Vielleicht weil hier niemand mehr etwas erwartet hatte, war die Freude doppelt groß

Die Verheißung, zu lieben, ist keine:Willst du den Vater oder den Vater?

von SABINE ZURMÜHL

Eine merkwürdige Sommerdebatte in den Medien stellt die Frage, ob nicht inzwischen „das Feuilleton“ zu weiblich geworden ist. Als Nachricht von der Bayreuthfront lässt sich, zumindest, was die Pressekonferenzen betrifft, nur Entwarnung geben: Das deutsche Feuilleton, soweit es dort sprechend und fragend in Erscheinung tritt, ist männlich, ist arrogant (O-Ton: „Meinetwegen kann das ja in einem Vestibül spielen, aber muss das wirklich sein?“) und inqusitorisch (O-Ton: „Herr Wagner, wie viele Produktionen haben Sie von Schlingensief wo gesehen und wie heißen die?“). Ebendieses Feuilleton ist im Moment heftig bemüht, sein Bayreuth vor den „jungen Wilden“ in Sicherheit zu bringen, vor den Respektlosen und Hinwegfegern, den Umkremplern.

Die jungen Herren Musikredakteure mausern sich zu traditionswahrenden Bedenkenträgern: Können diese Wilden eigentlich Partituren lesen, werden die sich genug Mühe geben, wird das etwa ein Spaßtheater? Scheinheilige Fürsorge.

Der Alte in Bayreuth ist ganz offensichtlich auf der Überholspur. Wolfgang Wagner schließt mit der Verpflichtung von Christoph Schlingensief, der selber fast als Parsifal, der junge Tor, durchgehen kann, für den „Parsifal“ 2004, mit Christoph Marthaler, der weder jung noch wild der melancholische Musiker unter den Regisseuren ist, für „Tristan“ 2005 und mit Lars von Trier, dem chaotischen Dogmatiker, für den „Ring“ 2006 an die gegenwärtigen ästhetischen Debatten an: an die Zeiten von Cross-over, neuer Askese, Trash und Pomp und den Verlust der alten Sicherheiten von rechts und links. Wolfgang Wagner gibt die Werke seines Großvaters frei für Rüttelung und Schüttelung.

Die Premiere der diesjährigen Bayreuther Festspiele, der „Fliegende Holländer“, wurde ein bejubelter und behutsamer Triumph. Claus Guth (Regie) und Christian Schmidt (Kostüme und Bühnenbild), ein inzwischen eingeschworenes Paar (Guth: „Ich bin ein extremer Teamworker“), machten aus diesem ziemlichen Berserkerstück ein zartes und elegisches Kammerspiel, das ein trauriges Denkmal für die Kinder und insbesondere die Töchter setzt, die nicht ins Leben gelassen werden. Das Hemdsärmelige und Dröhnende, das die Mannenchöre der Oper ausstrahlen, trat so zurück. Dass sich die Oper einmal so gegen die Ideologie wenden ließe, für die Wagner fast zu einem Logo geworden ist, ist das Überraschende.

Guth interessierte nicht mehr das Drama des „Holländers“, der wie Ahasver oder Dracula ewig unerlöst umherschweift, wohl aber die Motive der Romantik, wie sie im Doppelgänger, im Spiegelbild bei E. T. A. Hoffmann, Edgar Allen Poe oder eben Heine, der direkten Vorlage für den „Fliegenden Holländer“, zu finden sind. Er verlegt die in einem norwegischen Hafen spielende Handlung in ein bürgerliches Haus: Das ist ein schöner und verwirrender Innenraum, in dem oben auch unten ist und die Dinge sich spiegeln wie bei einer Spielkarte. Für diese Verirrung verwendet Guth als wiederkehrendes Zeichen, fast somnambul die Augen mit flachen Händen zuzuhalten, wie Kinder es tun, wenn sie sagen, ich bin nicht da. Ein riesiger roter Kinovorhang verbirgt zeitweise die eine oder andere Hälfte des Raums, zerkratzte Filmstreifen tanzen über die Flächen, Türen stehen auf dem Kopf, Menschen laufen rückwärts, verquere Chiffren der Normalität.

Der konzeptionelle Kunstgriff der Regie erweist sich schnell als schlüssig, unheimlich, faszinierend: Guth spiegelt Daland und den Fliegenden Holländer, also Sentas Vater einerseits und Sentas herbeifantasierten Geliebten andererseits, als zwei Vexierbilder, zwei Facetten einer Person, zwei Kapitäne mit Uniform, randloser Brille, Mütze, grauem Bart, die sich synchron bewegen und mit sich selbst sprechen, wenn sie einen Dialog halten. Fast wie siamesische Zwillinge.

Die Verheißung, die Senta, das Bürgerkind, Senta mit dem blauen Matrosenkleidchen, Senta mit der Matrosenpuppe, für ihre Zukunft hat, nämlich den „Fliegenden Holländer“ zu lieben, ist keine: Willst du den Vater oder den Vater? Am oberen Ende der Treppe steht der „Holländer“, am unteren Ende der Vater. Und was in traditionellen Inszenierungen noch als Entscheidung Sentas für den geheimnisvollen Fremden dargestellt werden kann, ist hier schon für sie entschieden.

Vergangenheit und Gegenwart mischen sich. Die kleine Senta – als reales Kind immer wieder durch die Szene laufend – erlebt die Innigkeit mit dem Vater, das Vorlesen der Holländer-Geschichte, Geborgenheit und Sehnsucht. Anrührend und gespenstisch der Chor der Matrosen, der als Marionettenballett wie auf einem Kindergeburtstag zwischen bunten Lampengirlanden und unter einem blutroten Spielzeugschiff auftritt, als Überraschung für die kleine Prinzessin, das einsame Kind. Für die erwachsene Senta wird diese Konstellation mit dem Vater zum Gefängnis und zum Liebesverbot.

Es ist keine eindeutige Inzestgeschichte, wie vor der Premiere als Gerücht kolportiert wurde, es ist eher die Geschichte eines geistigen Inzests, eines umklammernden unfairen Machtanspruchs aus Liebe. Unfreiwillig treue Töchter. Die Welt vom Vater erklärt, eigene Wege verboten. Das Beharren zu Hause verhindert den Liebes-Opfertod, den Senta sonst sterben würde, aber sie wird auf andere Weise der Lebendigkeit beraubt.

Am Ende steigt Senta die Treppe hinauf und sucht den Ausgang aus ihrem Kinderhaus. Hinter der Tür ist die Wand, und Senta wird hier im Haus bleiben, einfach immer. Aber auch der Vater wird das Haus wohl nicht verlassen, es fängt alles immer wieder von vorne an.

Marc Albrecht, der fast kammermusikalisch arbeitende Dirigent, wurde bejubelt und ebenso Adrienne Dugger als fulminante Senta, Jaakko Rhyänen als Vater Daland, Tomislav Muzek als Steuermann: Sie alle sind zum ersten Mal in Bayreuth. Der „Holländer“ wird von John Tomlinson gesungen, dem wunderbaren Wotan des letzten „Rings“.

Die genaue, frappierende, gänzlich neue Lesart des „Holländer“ steht damit im wohltuenden Gegensatz zum konzeptions- und lieblosen „Tannhäuser“ Philipp Arlauds von 2002, dieses Jahr ohne Korrekturen oder Veränderungen wieder aufgenommen und der eigentlich nur durch das überragende Dirigat Christian Thielemanns lohnend bleibt. Das nächste Festspieljahr darf kommen, wie wild, wird sich weisen.