Ein Spiel, dem die Figuren fehlen

„Ha, die Michaela“, sagt der Lehrer. „Hat sich schon zur Dame hochgearbeitet.“ Michelle rollt die Augen

aus Ströbeck JUTTA HEESS

Der Mann deutet auf die Spitze des mittelalterlichen Turms. „Hier hat alles angefangen“, sagt Josef Cacek. Der frühere Lehrer, 72 Jahre alt, kann eine Menge Geschichten und Legenden über sein Heimatdorf Ströbeck erzählen. Die wichtigste dreht sich eben um den Turm, in dem im 11. Jahrhundert ein Graf gefangen gehalten wurde. Die Ströbecker Bauern bewachten ihn, und weil der vornehme Herr sich langweilte, brachte er seinen Bewachern das Schachspielen bei. Von da an hat sich im Ort sehr viel um das Spiel gedreht, so viel, dass es eigentlich nicht mehr wegzudenken ist, jedenfalls für Josef Cacek nicht. „Ströbeck ohne Schach?“ Er schüttelt den Kopf.

Ströbeck ist ein Dorf in Sachsen-Anhalt mit 1.200 Einwohnern, es gibt noch zwei landwirtschaftliche Betriebe, viele Menschen pendeln zum Arbeiten ins niedersächsische Salzgitter oder nach Wolfenbüttel. Von den Gemeinden der Gegend würde Ströbeck nichts unterscheiden. Wenn nicht die Schachbretter an den Haustüren wären, der Marktplatz nicht „Platz zum Schachspiel“ hieße und sich in der Ortsmitte kein großes schwarz-weiß kariertes Feld befände. Denn seit der Graf den Bauern das Spiel zeigte, sind die Bürger des Ortes verrückt danach. Am Schachturm weht die Ortsfahne im Wind – in der Mitte erkennt man das Schachbrett im Gemeindewappen. Es gibt einen Schachverein, ein Schachmuseum und auf dem Ortsschild steht „Schachdorf Ströbeck“.

Josef Cacek öffnet die Tür des kleinen Hauses direkt neben dem Turm. Lange Zeit war er hier der Museumsleiter. „Dieses Schachbrett ist ein Geschenk des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm aus dem Jahr 1651. Die dazugehörigen Silberfiguren sind leider abhanden gekommen.“ In den Vitrinen stehen Schachfiguren aus aller Welt. Zum Beispiel ein Schachspiel aus Grönland mit Eskimofiguren und Iglus sowie chinesische Schachfiguren in Form von kleinen Tempelbauten. Im Dachgeschoss hängen Fotos und Zeitungssauschnitte, die die Schachgeschichte der Gemeinde dokumentieren. Und hier gibt es die Abteilung „Schach als Schulfach seit 1823“.

Seit nunmehr 180 Jahren wird in Ströbeck Schach an der Schule unterrichtet. „Das ist in Deutschland einmalig“, sagt Cacek. Er geht zu einer Vitrine, in der alte Schulunterlagen ausgestellt sind. „Schach: Sehr gut“, lautet der handschriftliche Eintrag auf einem Zeugnis aus dem frühen 20. Jahrhundert. „Ja, eine lange Tradition“, murmelt der Mann. Er hat selbst seit Beginn der 50er-Jahre im Dorf als Lehrer gearbeitet und die Fächer Biologie und Deutsch unterrichtet. Und Schach. Mit nur leichten Veränderungen halten sich die Lehrer heute noch an den Lehrplan, den er damals erarbeitet hat. „Nur solche Sachen wie Schachcomputer und CD-ROMs, die standen mir ja noch nicht zur Verfügung, in dieser Richtung wurde der Lehrplan ergänzt. Aber wer weiß, ob es damit nicht bald vorbei ist.“ Cacek zuckt mit den Schultern, als wolle er diesen Gedanken wegstoßen. Denn das Pflichtfach Schach in der Schule ist der heikle Punkt, an dem das, was der gefangene Graf einmal angestoßen hat, wieder verschwinden könnte.

Noch lernen die Ströbecker Kinder, wie man Springer rückt und die Dame schützt, was ein Seekadettenmatt und was eine Rochade ist. Sie studieren Schachzüge an der Tafel und spielen kleine Turniere. Der Schachunterricht beginnt in der zweiten Grundschulklasse und wird in der Sekundarschule von der fünften bis zur siebten Klasse fortgesetzt. Die Sekundarschule, eine integrierte Haupt- und Realschule, heißt Dr.-Emanuel-Lasker-Schule, benannt nach dem einzigen deutschen Schachweltmeister. Nun ist es so, dass eine Schule in Sachsen-Anhalt für eine fünfte Klasse mindestens 20 Schüler braucht, aber weil auch aus Ströbeck und Umgebung die Menschen abwandern, kamen nicht mehr so viele zusammen.

Rudi Krosch ist der Bürgermeister. Auch er hat früher das königliche Spiel in der Schule gelernt, obwohl er sich eigentlich mehr für Fußball interessierte. Aber nun ist er für das Dorf verantwortlich und weiß, dass Schach die einzige Attraktion ist. Fußball haben ja alle. Darum kämpft Krosch für den Schachunterricht. Er sitzt im Sitzungssaal des Gemeindehauses mit Josef Cacek zusammen, der vor einigen Jahren an die Wände des Raumes historische Schachmotive gemalt hat. Die beiden sehen so aus, wie nach einer Partie, die auch hätte schief gehen können, konzentriert, aber nur ein wenig erleichtert. Es war knapp. Ein Antrag der PDS-Landtagsfraktion, die Regelung mit der Mindestzahl von Schülern auszusetzen und kleineren Klassen zuzustimmen, sei im Juni abgelehnt worden, sagt Josef Cacek. Die Ströbecker haben daraufhin eine Bürgerinitiative gegründet und weiße Bettlaken an ihre Häusern gehängt: „Schachmatt? Nein danke!“ und „180 Jahre Schulschach vor dem Aus?“

Vorläufig zumindest scheint die Schule gerettet zu sein – vor allem, weil um andere Schüler aus den umliegenden Gemeinden geworben wurde. Mittlerweile sind 23 Kinder für die 5. Klasse gemeldet – jedoch nur ein einziges ist aus Ströbeck. Die meisten Kinder werden von ihren Eltern nach Halberstadt auf das Gymnasium geschickt. „Inzwischen haben wir eine Zusage vom Kultusministerium, dass wenigstens das neue Schuljahr genehmigt wird“, sagt der Bürgermeister. „Zu 99 Prozent.“ Aber ab 2004 müssen alle Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt mindestens zweizügig sein, also sind 40 Schüler für einen Jahrgang notwendig. Krosch wird sich anstrengen müssen in seinen Verhandlungen mit dem Schulamt.

Kleinlich seien die Regelungen der Politik, schimpft Cacek. Und Krosch sagt: „Es geht nicht nur um das Schulfach Schach, sondern damit auch um die kulturhistorische Tradition. Wir haben zum Beispiel seit 300 Jahren ein Lebendschachensemble.“ Er erklärt das auf dem Weg vom Gemeindehaus zum Marktplatz. Hier sitzen zwei Mädchen auf einer Bank im Schatten, sie haben Sommerferien. Cora und Michelle sind Mitglieder des Schachvereins – und wirken im Lebendschachensemble mit, Cora als Turm, Michelle als Dame verkleidet. „Wir treten bei Festen auf, spielen berühmte Schachpartien nach und führen Tänze auf.“ Cora ist 13 und hatte im Zeugnis eine Eins im Schach. „Mit der Schachgruppe kommt man wenigstens mal ein bisschen rum“, ergänzt die 16-jährige Michelle. „Ja, die Michaela hat sich schon zur Dame hochgearbeitet“, sagt Josef Cacek stolz. Michelle rollt die Augen, weil der ehemalige Lehrer ihren Namen falsch ausspricht.

Rudi Krosch sagt, dass das Lebendschachensemble zu Festen in ganz Europa eingeladen wird. Als einzige deutsche Gemeinde gehöre Ströbeck zu den zwölf „Kulturdörfern Europas“ – wegen der Schachgeschichte. „Es ist ein Ansporn für die Jugendlichen, dass sie mit dem Ensemble reisen können.“ Und damit raus aus Ströbeck kommen, könnte Krosch ergänzen. Tut er natürlich nicht. Aber der 59-Jährige gibt zu, dass die kleine Gemeinde unter der stetigen Abwanderung leide. Dass die geringe Schülerzahl nicht nur mit dem Geburtenrückgang zu tun habe. „Viele Ströbecker gehen zur Arbeit in den Westen“, sagt er. Bei zwei landwirtschaftlichen Betrieben sei es auch kein Wunder, dass die Jugend in die Städte strebe. Rudi Kroschs eigene Kinder leben in Westdeutschland.

Die jungen Ströbecker hauen ab. Kein Kino, kein Jugendclub. Nur Schach. „Zum Kotzen“, sagt eine

Die Zeiten, in denen die Ströbecker Männer beim Schach um ihre Bräute spielten, sind sowieso längst vorbei. Und auch die, in denen der Auftritt des Lebendschachensembles im Palast der Republik in Berlin ein Höhepunkt für die Schüler war. Oder die Zeiten, in denen die Ströbecker mit Stolz erzählten, dass der mehrmalige Blitzschachmeister der DDR, Harald Darius, einer von ihnen ist. Zug um Zug hat das Königsspiel an Bedeutung verloren. Heute sitzen Cora und Michelle in ihren Sommerferien unter dem Baum auf dem „Platz zum Schachspiel“ und sehen gelangweilt aus. Da hat Ströbeck nun mal dieselben Probleme wie alle kleinen Dörfer in der Provinz. Ohne Kino, ohne Jugendclub, ohne Freizeitangebote finden die Jugendlichen ihre Heimat „zum Kotzen“, wie ein drittes Mädchen sagt.

Auch wenn Cora und ihre Freunde sagen, es sei schade, wenn die Schule dichtmachen müsste, sind es die Erwachsenen, die um die Schachschule kämpfen. Und um die 2.000 Touristen, die jedes Jahr herkommen. „Es ist ja nun mal auch eine Voraussetzung für das Schachdorf Ströbeck, dass wir diese Schachschule haben“, findet Rudi Krosch. Sonst könne man auch die Schrift „Schachdorf“ vom Ortsschild entfernen.

Beim Überqueren des Schachplatzes sagt Josef Cacek, dass Schachspielen zur Entwicklung der Persönlichkeit beitrage. „Da ist Fantasie gefragt, und die Schüler zwingen sich zur Ausdauer.“ Krosch lässt das Stichwort fallen, auf das man gewartet hat: „Gerade nach den Ergebnissen der Pisa-Studie sollte man vielleicht auch mal neue Wege gehen.“

Cora und Michelle sitzen immer noch auf der Bank. Wenn sie gerade Zukunftspläne schmieden, wird Ströbeck mitsamt seiner Schachtradition keine Rolle dabei spielen. Auch das Ausweichen ist eine Strategie beim Schachspiel.