Really like piefig

Kunst am Bau einmal ganz anders: Einen Monat lang bespielt eine internationale Gruppe von Kunststudenten einen Teilbereich des berühmt-berüchtigten Nazi-Bades mit NVA-Vergangenheit in Prora auf Rügen. Doch wie lässt sich ein historisch kontaminierter Ort künstlerisch nutzen? Zu Gast bei einem diffizilen Projekt

von SEBASTIAN HEINZEL

„Speergebiet“ – die Anspielung auf den NS-Chefbaumeister kündigt die Anwesenheit der selbst ernannten „Anarchitekten“ schon aus der Ferne an. Auf ein zwei Fenster breites Stück Linoleumfußboden hat jemand die schwarzen Buchstaben gekrakelt. Nahezu fensterlos präsentiert sich das als Nazi-Erholungsheim geplante und später als NVA-Kaserne genutzte Prora im Sonnenlicht, ein rauer Ostseewind trägt lautes Hämmern aus dem Haus. Bald stehe ich vor verschlossenen Türen: „prora.allinclusive – members only! Zutritt nur nach Anmeldung!“ steht da; und eine Handynummer. Ich wähle sie. Kurze Zeit später kommt eine junge Frau ans Metallgitter. „Komm’ Se rinn, kieken Se raus!“ Die knappe Begrüßung klingt nicht sehr einladend.

Katja Koggelmann stellt sich als eine der Teilnehmerinnen vor. Dann zeigt sie mir mein Zimmer: die „President’s Suite“, den einzigen Raum mit einem Schlafsofa. Die Studenten selbst nächtigen auf ausgemusterten NVA-Betten. Die karge Stube ist liebevoll ausgestattet. Die Fenster fehlen, statt ihrer schützt rote Folie vor der Meeresbrise. Der Kleiderschrank war mal ein Strandkorb, auf dem grauen Schreibtisch soll geknäultes Kreppklebeband einen Blumenstrauß symbolisieren. Die mintgrüne Bettwäsche trägt die Aufschrift „Gesundheitswesen“. Die Bewohner betrachten mich als „Embedded Correspondent“, wie sie mir beim gemeinschaftlichen Abendessen mitteilen. „Wir müssen dich noch briefen, was du schreiben kannst“, erklärt Katja Koggelmann ganz unironisch. Denn das Projekt steckt gerade in einer schwierigen Phase.

Für einen Monat dürfen dreißig internationale Kunsthochschüler in Block 5 des denkmalgeschützten Mammutkomplexes leben. Sie bilden die Vorhut für den Jugendevent „Prora 03“, der Ende August vor dem fünfhundert Meter langen Teilabschnitt stattfindet. Der Veranstalter hat das Gebäude an die Hamburger Hochschule für bildende Künste (HfbK) untervermietet, deren Studenten das Projekt organisieren. Im vergangenen Jahr hatten Studenten der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee ein leeres Plattenbauhochhaus im Berliner Osten bezogen.

Für Johannes Weisser, Architekturstudent aus Hamburg, ist die Einheit von Leben und Arbeiten ein kreativer Kontrast zur ewig leeren Kunsthochschule in Hamburg: „Jeder arbeitet zu Hause; im Studium schafft man es nicht, einen Diskurs zu entwickeln.“ Das freie Arbeiten bedeutet aber auch: keine Duschen, keine Fenster und nur zwei Dixi-Klos vor dem Haus.

Nachdem eine provisorische Dusche installiert und Regale aus alten NVA-Schränken gezimmert waren, mussten die Studenten feststellen, dass ihre Anwesenheit nicht mit dem Verwalter der Anlage, dem Bundesvermögensamt in Rostock, abgesprochen war. Das Amt erfuhr aus der Presse davon und duldet die Künstler-WG nun als „genehmigte Hausbesetzung“, wie Weisser sagt. „Das bringt uns dem Art-Squatting näher“, fachsimpelt der 25-Jährige.

Dass genug Raum vorhanden ist, davon überzeugt mich eine Nachtwanderung durch die endlosen Flure mit Sebastian Post, einem weiteren Architekturstudenten. Fledermäuse flattern mit Hochgeschwindigkeit durch die Ruine, während wir durch Pfützen tapsen. Mit seinem Kopflicht beleuchtet Post im fünften Stock eine gespenstische Rauminstallation des Mexikaners Fernando Pizarro: Wollfäden und Luftballonfetzen sind miteinander verwoben und spannen sich von der Decke zu einem Stuhl, auf dem sich der Rumpf eines modellierten Körpers befindet. Über ihm schwebt ein mit Wasser gefülltes Kondom.

In einem Nebenraum kommen wir zum historischen Teil der Führung. Post strahlt eine Wandinschrift an: „21. 9. 82, Brigade Fiedler – noch 14 Tage!“ Gezeichnet ist der Eintrag von „Polischewski“ und „Piepenstock“, aller Wahrscheinlichkeit nach ehemalige NVA-Soldaten, die im Stützpunkt Prora ihren Militärdienst leisten mussten.

Einer von ihnen schleicht immer noch ums Haus: Jens Kraszewski. Als wir aus dem Fenster schauen, sehen wir den Lichtkegel seiner Taschenlampe. Der stämmige 40-Jährige schiebt hier Wache, seit die Künstler eingezogen sind. 1989 war er selbst für ein halbes Jahr in Prora kaserniert, dann kam die Wende und damit seine vorzeitige Entlassung. Jetzt will Kraszewski weg von der Insel. Der Sicherheitsdienst, sein erster Job seit sechs Jahren, bringt ihm genauso viel ein wie zuvor die Arbeitslosenhilfe.

Wenn es nach Kraszewski ginge, wäre der Koloss längst ein riesiges Jugenderholungsheim. „Er ist zwar aus der Nazizeit, war aber für ’ne gute Sache gedacht.“ Das klingt ein bisschen nach Kraft durch Freude. Annabel Lange, eine Karlsruher Kunststudentin, hat den Propagandaslogan aufgegriffen und eine „lebendige“ Installation geschaffen: Im dritten Obergeschoss tummeln sich ihre KdF-Hühnchen in einem eigens dafür hergerichteten Raum: „Küken der Freude“.

Für Wortspiele dieser Art kann sich das Bundesvermögensamt nicht begeistern. Am nächsten Morgen steht ein Auto mit Rostocker Kennzeichen vor der Tür. Ein Handwerker im Blaumann steigt aus und zeigt auf das „Speergebiet“-Plakat: „Wenn das Ding in fünfzehn Minuten nicht ab ist, fliegt ihr raus!“ Mit laufendem Motor wartet er, bis die Künstler das subversive Stück entfernen. In der anschließenden Krisensitzung versucht das Kollektiv, das Selbstbewusstsein wieder aufzurichten. „Es kann nicht sein, dass das Bundesvermögensamt hier Kunstaktionen zensiert!“

Vermutungen werden laut, es gebe einen direkten Draht aus dem benachbarten Dorf Prora zum Rostocker Amt. „This is really like piefig“, meint Lu Yen Roloff, die Soziologie in Hongkong studiert. Sie formuliert eine Kernfrage des Projekts: „Wer von euch ist daran interessiert, sich mit der Außenwelt auseinander zu setzen?“ Tatsächlich kann die Bevölkerung an der kreativen Arbeit im Haus bisher schwerlich teilhaben – „prora.allexclusive“ könnte man unken. Wenn sie ausziehen, wollen die Studierenden zwar „Spuren hinterlassen“, aber einen „Tag der offenen Tür“ oder Ähnliches wird es nicht geben.

Die Isolation ist auch ein Resultat der Sicherheitsauflagen im Nutzungsvertrag: Außer den eingetragenen Studenten darf keiner ins Haus. Doch das allein erklärt nicht den Mangel an Kommunikation mit den Inselbewohnern. „Ich hatte das Gefühl, in ein Sperrgebiet einzudringen“, meint Julius Seyfarth, frisch diplomierter Regisseur und Urheber des „Speergebiet“-Plakates. Der gebürtige Schweriner geht davon aus, dass die Einwohner ihre Kunst als „Versuche von ein paar dahergelaufenen Wessis“ abstempeln.

Das letzte Jahrzehnt in Prora, so Seyfarth, sei geprägt gewesen von Investorenversprechungen für den leer stehenden Bau, und keines wurde verwirklicht. „Diese Leute hatten seit dreizehn Jahren kein Erfolgserlebnis.“ Ein greifbares Resultat allerdings kann auch er nicht versprechen: „Mir geht es hier nicht um Ergebnisse, sondern um die Prozesse zwischen den Menschen.“ Die Künstlergemeinde vertagt ihre Krisensitzung und beschließt, am Abend die direkte Konfrontation mit der Inseljugend zu wagen.

Im Gegensatz zum Norden der Anlage, in der Ruinen und leer stehende Bettenhäuser die Landschaft prägen, sind im Mittelteil eine Museumsmeile, mehrere Geschäfte und das „Miami“ untergebracht. Der Himmelsstrahler der Disko wirkt von weitem wie ein riesiger militärischer Suchscheinwerfer. Neonpink blinkt es am Eingang, überraschend rustikal ist es im Innern. Die einfallende Horde stürmt sofort auf die Tanzfläche, zahlenmäßig übertreffen die zwanzig Studenten die sonstigen Gäste bei weitem. Es ist Freitagnacht. Von der Bar her betrachten aufgetakelte Mädchen mit wasserstoffblondem Haar amüsiert und irritiert die barfuß tanzenden Künstlerfrauen. Schnell wird klar: Eine Kommunikation zwischen den Parteien wird auch hier nicht stattfinden. Immerhin bleibt es friedlich. Nach dem Clubbesuch gehen die Kunststudenten zum nächtlichen Nacktbaden in der Ostsee – ohne die Einheimischen.

Aufstehen, Frühsport!“ Am Morgen machen sich ein paar Arbeiter, die Vorbereitungen für das kommende Jugendfestival treffen, über die verschlafenen Künstler lustig; eine Anspielung auf den Morgenappell zu NVA-Zeiten. Ähnlich militärisch klingt der Heulton aus dem Megafon der Kuststudenten. Anwohner haben sich schon darüber beschwert. „Die denken, sie müssen wieder zum Dienst antreten“, witzelt ein Teilnehmer. In Wirklichkeit ruft die Sirene zu einem Meeting, in dem die künstlerische Antwort auf die Zensur des Amtes und die Reaktion der Anwohner besprochen werden soll.

Keiner möchte das Plakat wieder raushängen. Die Projektvorschläge klingen versöhnlich. Johannes Weisser will die offenen Fenster mit roter Folie ausstatten. Vom Wind gebläht, soll das Haus wie ein gigantisches pulsierendes Organ wirken. Nachts soll das Herz von innen leuchten. Weisser erläutert die Idee so: „Der Vater ist ein größenwahnsinniger Bauherr, die Mutter eine hässliche Architektur, das Ergebnis ein Kind mit zu langen Beinen, und jetzt soll es erwachsen werden. Aber wie jedes Kind in Mecklenburg-Vorpommern weiß es nicht, was es tun soll.“

Ein Symbol für den herzlosen Umgang mit einem historisch kontaminierten Gebäude. Das pochende Herz soll mit der Außenwelt kommunizieren und fragen: „Warum liebt ihr mich nicht?“

SEBASTIAN HEINZEL, 24, ist freier Autor und Filmemacher in Berlin