Kein Vergeben, kein Vergessen

Argentiniens Kongress kassiert die Amnestiegesetze, die den Diktaturmilitärs Straffreiheit zusicherten. Damit kommt Präsident Néstor Kirchner seinem Ziel ein Stück näher, dass mutmaßlichen Tätern in Argentinien der Prozess gemacht werden kann

aus Buenos Aires INGO MALCHER

Als Ricardo Bussi in die vor ihm in das Pult eingelassenen Mikrofone sagte: „Es bringt nichts“, blieb es noch ruhig. Als er mit einem Papierbündel in der Luft wedelte und sagte: „Es gab auch zahlreiche Mitglieder der Sicherheitskräfte, die ums Leben gekommen sind“, reagierte niemand. Doch als er sich so in Rage redete, dass ihm die Halsschlagader schwoll, und er brüllte: „Niemand wird der Señora Carlotto ihre Toten wiederbringen, es wird Zeit, dass solche Debatten aufhören“, kam es zu Tumulten im argentinischen Nationalkongress. Abgeordnete standen auf, schleuderten ihm Schimpfwörter entgegen, von der Tribüne ertönten Pfiffe. Seine letzen Worte: „Es gibt auch Linksfaschismus“, gingen unter.

Ricardo Bussi war einer der wenigen, die am Dienstag im Kongress die Verbrechen der Militärs während der Diktatur (1976–1983) zu rechtfertigen versuchten. Aber am Ende blieb er in der Minderheit. Nach 7 Stunden und 35 Minuten Sitzung beschloss das argentinische Unterhaus kurz vor Mitternacht, die Amnestiegesetze für während der Diktatur begangene Verbrechen zu kassieren. Und die von Bussi genannte Estella Carlotto, Präsidentin der Großmütter der Plaza de Mayo, sagte: „Dies war möglich, weil wir einen Präsidenten haben, der nicht unter Mördern leben will.“

Präsident Néstor Kirchner hatte in den vergangenen Tagen den Abgeordneten seiner Justizialistische Partei Druck gemacht, die Amnestiegestze im Kongress für ungültig zu erklären. Seit Kirchner Ende Mai seinen Amtseid geschworen hat, wird es eng für die Diktaturmilitärs in Argentinien, die bislang durch zwei Amnestiegesetze von 1986 und 1987 vor Strafverfolgung geschützt wurden. So hob Kirchner erst vor wenigen Tagen das Auslieferungsverbot für Militärs auf, nachdem der spanische Richter Baltasar Garzón einen Antrag gestellt hatte, 46 argentinische Militärs in Spanien vor Gericht zu stellen.

Ziel Kirchners ist es allerdings, dass den Militärs in Argentinien der Prozess gemacht wird. Seit Dienstagabend ist er diesem Ziel einen Schritt näher gekommen. Am Mittwoch nächster Woche muss der von mehreren Parteien unterstützte Antrag, die Gesetze ungültig zu erklären, noch durch den Senat. Auch dort scheint eine Zustimmung sicher.

Damit droht rund 2.600 argentinischen Diktaturmilitärs der Prozess. Ihnen wird vielfacher Mord, schwere Folter und Entführung vorgeworfen. Während der Diktatur verschwanden nach Angaben einer offiziellen Untersuchungskommission über 10.000 Menschen. Sie wurden von den Sicherheitskräften in Gefangenenlager verschleppt und gefoltert. Viele Angehörige wissen bis heute nicht, wo, wann und wie ihre Brüder oder Schwestern, Söhne oder Töchter ermordet wurden. Estella Carlotto sucht nach ihrem Enkel, der am 26. Juni 1978 in einem Gefangenenlager zur Welt kam – ihre Tochter war schwanger, als sie die Militärs verschleppten. Nach der Geburt wurde sie ermordet.

Es sind wenige, die den Militärs beistehen. Kaum 100 Menschen waren am Montag auf der Plaza de Mayo aufmarschiert, um gegenüber dem Präsidentenpalast gegen die Aufhebung der Amnestiegestze zu protestieren. Sie hielten Transparente mit der Aufschrift: „Soldat, bitte nicht um Entschuldigung dafür, dass du das Vaterland verteidigt hast.“

Für die Freunde der Militärs schreibt sich die argentinische Geschichte so: Vor dem Putsch im Jahr 1976 gab es einen Krieg zwischen der Guerilla und dem Staat. Das Land war ein Chaos. Die Militärs mussten eingreifen, um das Land zu retten. So denkt auch Ricardo Bussi, der im Kongress die Liste der ermordeten Militärs nicht vorlesen wollte, „weil ich weiß, in wessen Gesellschaft ich mich hier befinde.“ Sein Vater, Antonio, sitzt seit Juli mit den anderen 46 verhafteten Militärs in Untersuchungshaft. Während der Diktatur nannten sie Antonio Bussi in der Provinz Tucumán „den Metzger“. Er ist verantwortlich für über 800 Verschwundene in dieser Provinz.

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