Gerechtigkeit anders herum

Die Alten schulden den Jungen nichts. Die Jungen den Alten viel. Denn sie haben nach 1945 die Fundamente des Sozialstaats gelegt und die junge Demokratie stabilisiert

Die Jungen glauben ernsthaft, mit 35Wochenstunden würden sie genug für ihre Vorsorge leisten

Roland Koch, der Kommende, sagt es allemal mit einem frommen Beben in der Stimme: Wir, die Eltern, die Großeltern, hätten „diese Erde nur von unseren Kinder geliehen“. Wie das? Mit gleichem oder besserem Recht könnte festgestellt werden, dass die Gören diese Erde von uns erben, gleichviel in welchem Zustand, womöglich ein wenig freundlicher, als sie uns 1945 zugefallen ist. Von der Erbschaft wird die Rede sein.

Nun schreibt aber ein Schnösel, noch nicht trocken hinter den Ohren, heute schon finanzierten hundert Junge etwa vierundvierzig Alte. Den Teufel tun die Jungen. Wie die meisten meiner Generationsgenossen habe ich für meine Rente mehr als vier Jahrzehnte lang brav gezahlt; der Arbeitgeber legte das Seine dazu – ein Teil unserer Entlohnung. Die BfA war unsere Sparkasse. Jetzt zahlt sie das Kapital zurück, mit dem sie wirtschaften durfte, ob mit einer angemessenen Verzinsung oder ob sie uns berumst, steht dahin.

Die Jungen arbeiten in Wahrheit für sich, nicht für uns. Sie glauben, mit 35 Wochenstunden würden sie genug für ihre Vorsorge leisten. Wenn sie hernach die Suppe auslöffeln, werden sie merken, wie dünn sie ist. Sie sollten darüber beizeiten ein Wörtchen mit dem Kollegen Peters von den Metallern reden. Oder mit Frank Bsirske von Ver.di, der sich aufführt, als brächten die Berliner Bürokraten ein Opfer, wenn sie eine Stunde mehr pro Woche ihre Bürostühle drücken.

„Generationengerechtigkeit“ – das neuteutonische Begriffsmonster lässt sich nach zwei Seiten auslegen. Bayernherzog Stoibers Familienfachfrau Katharina Reiche ahnte es. Auf dem Weg zum Standesamt gab sie einem Reporter zu bedenken, dass die heutige Rentnergeneration Deutschland aufgebaut habe. Nicht in 35-Stunden-Wochen. Eher in 50 und 60 Stunden pro Woche und mehr. Als die Gewerkschaft ein Mädelchen plakatierte, das allerliebst gurrte „Samstag gehört Vati mir!“, zogen die Werktätigen skeptisch die Stirnen hoch. Dann nutzten sie das Wochenende, um ihr Häusle zu bauen, mit eigenen Händen.

Als dann die Achtundsechziger anfingen, sich gegen den „Leistungsterror“ zu empören, schüttelten jene stumm ihre Köpfe. Und als sich die Rundumerneuerer der Gesellschaft in wunderlicher Steigerung ihrer Wut über den „Konsumterror“ erregten, dachten ihre Erzeuger an den ersten Käfer, den sie nach sorgenvoller Erwägung zu erwerben gewagt hatten, Monat für Monat die fälligen Raten im Nacken. Die Sprösslinge indes hielten es für die Pflicht der Eltern, sie spätestens fürs Diplom mit einem Gebrauchtwägelchen zu belohnen. Längst war für sie selbstverständlich geworden, was Mama und Papa noch als gleißenden Luxus bestaunt hatten.

Die geschwätzige Faulheit jener Zwischengeneration wurde – dank der Rationalisierungstechnik – durch die Steigerungen der Produktivität halbwegs ausgeglichen: eine köstlich bequeme Fügung, die es den Rebellen erlaubte, kurzerhand zu vergessen, dass sich die angeblich nur restaurative Adenauer-Epoche nicht nur durch die fragwürdigen Herren Globke oder Oberländer (und tausende ihrer Sorte) im Dienst der Republik kompromittierte, sondern dass sie die Fundamente des Sozialstaates gelegt hatten, die der jungen Demokratie ihre Stabilität garantierten: den Lastenausgleich, den sozialen Wohnungsbau, die dynamische Rente, das Betriebsverfassungsgesetz, die Mitbestimmung. Sie hatten mit dem Aufbau Europas begonnen. Sie hatten, durch die Verankerung in der Allianz des Westens, die unabdingbare Voraussetzung für das Friedenswerk der Ostpolitik Willy Brandts erfüllt. Sie hatten die Bundesrepublik rasch zum drittgrößten Exportland emporgewuchtet.

Mit anderen Worten: die Eltern und Großeltern haben ihre Rente redlich verdient. Sie brauchen sich nicht zu genieren, achtzig oder gar neunzig zu werden, was ohnehin ein gemischtes Vergnügen ist. Was sollten sie tun? Mangels Flachland- und Mittelgebirgsgletschern in unseren Breiten ist es ihnen verwehrt, nach dem Vorbild der greisen Inuits (die früher Eskimos hießen) eines Nachts, wenn die Vorräte knapp werden, aufs Eis hinauszuwandern, um auf den sanften Kältetod zu warten.

Unsere Jungchristen wollen den Greisen das künstliche Hüftgelenk verweigern und kassierten herbe Widerworte, als ihr Chef die „Rationierung medizinischer Leistungen für Senioren“ forderte. Nur Exministerpräsident Kurt Biedenkopf, der sich von der Rolle des „Querdenkers“ niemals verabschieden wird, spendete lebhaften Beifall: „Richtig und mutig“ nannte er die Anregung, das kranke Gesundheitssystems durch bürokratisch kontrollierten Darwinismus heilen zu wollen.

Der quirlige Wahlsachse, der nun auch seine dreiundsiebzig zählt, darf sich eine neue Hüfte (oder auch zwei) gewiss noch zulegen, wenn’s denn nötig sein sollte, dank der Beamtenversicherung und der rücklagenbewussten Frau Gemahlin, die als Landesmutter auf sparfördende Schnäppchen stets bedacht war. Besser hätte er für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit plädiert oder für eine flexible Altersgrenze, die dem seelischen Wohlbefinden der Senioren aufhelfen würde. Mit der Courage, auf die er sich viel zugute hält, hätte er sich zu einem Appell an die Jungen entschließen können: sich endlich ins Zeug legen und von ihren Gewerkschaftsbossen fordern, sie sollten sich mit der 35-Stunden-Woche zum Teufel scheren, denn nur Mehrarbeit schaffe Arbeitsplätze.

Die durch Rationalisierung steigende Produktivität glich die Faulheit der Zwischengeneration aus

Als die Nachkriegsgeneration einst ans Werk ging, waren die bahnbrechenden Erfindungen des Industriezeitalters alte Hüte: Automobile, Flugzeuge, Elektrotechnik, Maschinenbau, doch sie machten eine Wunderwelt daraus. Lediglich Elektronik und Informatik öffneten neue Produktionsfelder, die von den Deutschen allzu zögernd besetzt wurden. Was aber bleibt jetzt zu tun? Wie wäre es zunächst mit der Entwicklung einer Service-Industrie, die bei uns noch immer zweit- oder drittrangig ist, einer zivilisierten Gesellschaft kaum würdig? Dies freilich fordert bescheidenen Fleiß und Geduld, bis sie Früchte trägt.

A propos Erbmasse. Zwischen den Jahren 2001 und 2010 werden, laut Meinhard Miegel, in Deutschland rund zwei Billionen Euro zu erben sein, die insgesamt fünfzehn Millionen Haushalten zugute kommen, in unterschiedlichen Dimensionen. 80 Prozent erben so gut wie nichts, 29 Prozent zwischen 13.000 und 80.000, an die 40 Prozent zwischen 80.000 und 300.000 Euro. Und 2 Prozent ein Viertel der gesamten Vermögen. Gerecht ist er zweifellos nicht, der Kapitalismus. Aber die Geld- und Immobilienmasse insgesamt ist nach 50 Jahren Frieden überwältigend – größer, als sie es in der Geschichte jemals war. Uns, den Alten und Erblassern, für die es einst nichts zu erben gab, schulden die Jungen wenigstens ein paar Zinsen. Oder?

KLAUS HARPPRECHT