Das Haus der Obsessionen

Eine klaustrophobische Collage aus Anklage und Betroffenheit: Trotz inhaltlicher Stagnation gehört das Mauermuseum im Haus am Checkpoint Charlie weiter zu den meistbesuchten Museen der Stadt

Geschichte wird gemacht, oder besser: ein wirkungsvolles Bild von ihr

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Das Carepaket ist ein historisches Objekt von erzieherischem Wert. „Siehst du“, sagt die Mutter, die sich in der langen Schlange vor der Kasse zum Mauermuseum über ihren sommersprossigen Sohn beugt und auf die Vitrine am Eingang zeigt, „das ist ein Carepaket.“ Sie erzählt von hungernden Berlinern, der Blockade und der Luftbrücke. Und immer schwingt darin ein bisschen mit, wie gut er es doch hat und dass man immer alles aufessen soll. So wird vor allem in Ferienzeiten das Mauermuseum zu einem Platz, an dem Eltern ihre Kompetenzen beweisen – in Geschichte und Geschichten.

Es ist heiß und es ist voll. Der erste Stau von Schwaben und Japanern, Müttern und Söhnen kommt gleich hinter dem Eingang. Man steht und liest wie noch oft in der nächsten Stunde. Da liegen in Folie geschweißte Blätter mit winzig kleiner Schrift. Entziffern kann man das kaum. Lesen kann man nur den groß gedruckten Wandtext, dass diese Gedichte ein Mann im Gefängnis schrieb, bevor er im Nationalsozialismus hingerichtet wurde. Ein Widerstandskämpfer? Darüber erfährt man nicht viel, und die wenigen Daten, die zu dem konservativen Schriftsteller und Geografen Albrecht Haushofer geliefert werden, sind schwer zu interpretieren.

Wohl aber, dass sich Rainer Hildebrandt, der Gründer des Museums, auf die Geschichte des Widerstandes gegen Hitler als die Wurzeln seines lebenslangen Kampfes „gegen das Unrecht“ bezieht. „Meiner großen Freude über das Ende Hitlers folgte bald die große Sorge über das Schicksal des besetzten und geteilten Deutschlands. So gründete ich 1948 die ‚Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit‘ und nach dem Bau der Mauer dieses Museum.“

Dieses Pathos wird dem Besucher noch oft begegnen. Denn immer wieder bringt sich der Museumsgründer in Text und Bild ins Spiel als der Mann, der dieses Museum 1963 gegen die Mauer in Stellung brachte. So ist sein Haus nicht zuletzt auch das Dokument einer Legendenbildung.

Vielen von denen, die vor 30 oder 20 Jahren aus Westdeutschland nach Westberlin zogen, war das stramm an der Propaganda des Kalten Krieges beteiligte Haus eher ein Graus. Aber schon damals ersetzte es für viele Berlin-Touristen ein historisches Museum. In der letzten Statistik über Museumsbesuche in Berlin steht es an zweiter Stelle, gleich hinter dem Pergamonmuseum, mit 600.000 Besuchern im Jahr 2001. Das Deutsche Historische Museum kommt da im gleichen Zeitraum mit 259.584 Besuchern lange nicht mit. Insofern kann man sagen: Im Mauermuseum wird Geschichte gemacht, zumindest ein Bild von ihr mit großer Außenwirkung. Zu den letzten prominenten Gästen gehörte der japanische Ministerpräsident Junichiro Koizumi, der hier seinen Deutschlandbesuch begann.

Ein Hauch von Raumnot und Platzangst bestimmt den obsessiven Stil. Historische Dokumente, berühmte Fotografien, expressive Kunst mit Bekenntnisdrang und Texte in den Sprachen der Alliierten, die Geschichte knapp wie eine Moritat erzählen, hängen Kante an Kante. Eine Skulptur von Rolf Biebl, „Der Rufer“, besteht fast nur aus einem schmerzhaft überdehnten, zurückgelegten Hals, als ob aus seiner Kehle ein Schrei von allen Kassandren der Welt ausbrechen könnte. Sie bildet den Mittelpunkt einer Sammlung von Objekten zum 17. Juni 1953: eine Stalin-Fahne, Fotos von marschierenden Arbeitern, ein Marx-Zitat über die Revolution und Einladungen zu einer Kundgebung 1964 vor dem Rathaus Schöneberg im Gedenken an den 17. Juni 1953. Es gibt in dieser Montage keine Unterscheidung zwischen Ereignis und Rezeption.

So entsteht eine Collage der Anklage und Betroffenheit. Altarähnliche Aufbauten erinnern an die „Mauertoten“, Werke von verfolgten Künstlern unter dem Nationalsozialismus hängen neben Arbeiten von Künstlern, die in der Tschechoslowakei mit abstrakten und dadaistischen Formen aneckten. Eingestreut sind immer wieder, als hätte ein Horror Vacui das ästhetische Konzept bestimmt, Friedenstauben aus einem Malwettbewerb für Kinder.

Die Hits der Ausstellung aber, und um die besteht der größte Andrang, sind die Fluchtfahrzeuge, zu Wasser, zu Lande und durch die Luft. 55 Menschen in diesem VW-Käfer, eine zukünftige Ehefrau in jenem Artistenkoffer, das selbst gebaute Sauerstoffgerät einer Taucherflucht, die Nähmaschine, auf der ein Ballon für eine der letzten spektakulären Fluchten 1979 genäht wurde – der Spielfilm dazu läuft jeden Tag um 17 Uhr. Das ist etwas zum Staunen über den menschlichen Erfindergeist und die Produktivität der Not.

Viele dieser Räume haben sich kaum verändert in den letzten zehn Jahren. Neue aber sind hinzugekommen, und über den Souvenirshops, die im Erdgeschoss inzwischen den ganzen Block einnehmen, ist das Museum gewachsen bis zu einer gläserner Kanzel, die als Ausguck über dem Checkpoint Charlie schwebt. Hier liegt unter Glas in den Fußboden eingelassen und als große Kostbarkeit bezeichnet ein Stück zerbrochener Asphalt mit einem Grenzstreifen. Der letzte Raum gehört einer Sammlung von Grenzschildern in vielen Sprachen, die nach 1989 abgebaut werden konnten. Hier wird das Museum unversehens von einem Haus der ungebrochenen Anklage gegen die DDR zu einem der Mauernostalgie. Denn mit ihrem Abbau brach auch das Muster der Identitätsstiftung zusammen, das im Mauermuseum bezeugt wird: Alles, was hier liegt, war ihrer Überwindung gewidmet.

Im Museumsshop fällt denn auch die Vielfalt der Artikel auf, die den Text der berühmten Warntafel „You are leaving the american sector“ in ein Logo umgewandelt haben, das auf T-Shirts, Wasserflaschen, Mousepads und Schokoladentafeln prangt. Da ist die Grenze längst zu Pop geworden.