Höchste Alarmstufe in Israel

Nach dem Selbstmordattentat mit 21 Toten in Jerusalem bricht Israel die Kontakte zur Palästinenserbehörde ab und verschärft die Belagerung der Städte im Westjordanland. Einige Politiker fordern die Ausweisung von Palästinenserpräsident Jassir Arafat

aus Jerusalem ANNE PONGER

Letzte Alarmstufe vor Ausrufung des nationalen Notstands herrschte gestern in Israel, nachdem bei einem Selbstmordanschlag in einem Linienbus in Jerusalem am Dienstagabend zwanzig Menschen und der Attentäter getötet und über 110 verwundet worden waren, darunter mindestens 40 Kinder. Zu der Attacke bekannte sich die Islamistengruppe Hamas.

Israel reagierte umgehend mit Abbruch aller Gesprächskontakte mit der Palästinenserbehörde, riegelte die Palästinensergebiete hermetisch ab und verschärfte die Belagerung der Westjordanstädte. Regierungschef Ariel Scharon beriet mit dem Sicherheitsapparat über weitere israelische Reaktionen.

Um 21 Uhr hatte der 28-jährige Attentäter Rael Abdel-Hamed Misk aus Hebron einen Bus der Linie 2 mit einem fünf Kilo schweren Sprengstoffgürtel im Jerusalem Orthodoxenviertel Mea Schearim bestiegen und umgehend gezündet. Die Linie 2 transportiert vor allem gläubige Juden von der Klagemauer in den orthodoxen Jerusalemer Vorort Har Nof. Es wurde für möglich gehalten, dass Misk sich als religiöser Jude verkleidet hatte. Später am Abend strahlte eine private Hebroner TV-Station eine Bekenner-Kassette von Misk aus, der verheiratet, Vater zweier Kinder, Lehrer an einer Oberschule und Imam (muslimischer Geistlicher) einer örtlichen Moschee war. Obwohl Hebron unter voller Sicherheitskontrolle des Militärs steht, gelang es ihm, bis ins Zentrum Jerusalems zu gelangen.

Dabei hatten Israelis und Palästinenser mit Rache des Islamischen Dschihad gerechnet, nachdem die Armee vergangene Woche den Hebroner Chef des Dschihad, Mohammed Sider, liquidiert hatte. Just zur Zeit des Anschlags versuchte der palästinensische Premier Machmud Abbas in Gaza, Vertreter des Dschihad zu einer Einhaltung der Hudna (arabisch: Waffenruhe) zu bewegen. Abbas verurteilte den Anschlag als „Verletzung nationaler palästinensischer Interessen“, verwehrte weitere Kontakte mit Hamas und Dschihad und kündigte offensive Maßnahmen an.

Zeit und Ausmaß des Anschlags bringen Abbas und seinen Sicherheitsminister Mohammed Dahlan in äußerste Verlegenheit. Seit vergangenem Freitag hatten Israelis und Palästinenser an einer Übereinkunft zur Rückkehr palästinensischer Kontrolle über vier Städte im Westjordanland gearbeitet. Dahlan erwirkte dabei von seinem israelischen Amtskollegen Schaul Mofas das Zugeständnis, gesuchte Terrorverdächtige nicht zu inhaftieren, sondern sie zur Abkehr vom bewaffneten Kampf zu verpflichten und zu überwachen. Der Kompromiss war von einigen Kabinettsmitgliedern heftig kritisiert worden, während die Armeeführung offenbar erleichtert war, sich von der Verantwortung für die vier Palästinenserstädte zu befreien. Am Dienstag war sogar Hoffnung auf Beseitigung einiger Straßensperren aufgekommen.

Alle Gespräche über Erleichterungen für die Bevölkerung wurden durch den opferreichen Anschlag auf Eis gelegt und die Umklammerung der Gebiete intensiviert. Während in Jerusalem mit den Beerdigungungen der fast ausschließlich ultraorthodoxen Opfer begonnen wurde und zehn Verwundete noch in Lebensgefahr schwebten, wurden erneut Stimmen laut, die nach Deportation von Palästinenserpräsident Jassir Arafat riefen. Minister Avigdor Lieberman von der rechten Partei „Israel Beiteinu“ ging so weit, die Bombardierung von Arafats Hauptquartier in Ramallah mit allen Insassen anzuregen. Arafat sei der Drahtzieher hinter allen Anschlägen, glaubte Lieberman.

Am Vormittag verwarfen Regierungschef Scharon und Vertreter des Sicherheitsapparats jedoch Ideen zur Ausweisung Arafats. Am Abend wollten das Sicherheitskabinett zusammentreten, um über die Art der israelischen Reaktion zu entscheiden.

Die USA, die UNO und etliche Staaten verurteilten den Anschlag, riefen Israel jedoch zur militärischen Zurückhaltung auf. US-Außenminister Colin Powell kündigte Scharon an, die USA würden äußersten Druck auf die Palästinenserbehörde ausüben, entschlossen gegen die Terrorgruppen vorzugehen.

Es wird Israel schwer fallen, sich angesichts der hohen Opferzahl militärisch zurückzuhalten. Die Bevölkerung, die sich einige Wochen der Hudna-Illusion hingegeben und wieder Cafés, Restaurants und Vergnügungsstätten frequentiert hatte, ist über die Impotenz von Regierung und Armee bei der Verhinderung von Terror empört und verwirrt. Die Bürger sind immer wieder die Leidtragenden der politischen Uneinigkeit der Führung. Sie hören auch Stimmen von moderaten Ministern wie Josef Lapid (Schinui) und Arbeitspartei-Abgeordneten wie Benjamin Ben-Elieser, Ephraim Sneh und Dalia Itzig, die die Regierung beschwören, den Dialog mit der Palästinenserbehörde nicht abzubrechen und den Friedensfahrplan nicht in den Müll zu werfen.