Eine Mordshitze

„Ich hoffe bloß, dass es bald Winter wird. Richtig schüttelkalt“

aus Triel sur Seine DOROTHEA HAHN

Als es nicht mehr allein ging, war Suzanne Baraux 80. Das Asthma machte ihr zu schaffen. Die Augen ließen nach. Die Einkäufe fielen immer schwerer. Und selbst das Kochen, womit sie früher einmal ihren Lebensunterhalt verdient hatte, wollte nicht mehr recht gelingen.

Ihr voraussichtlich letzter Umzug führte sie ins Altersheim. Die beiden Söhne waren „ein bisschen geniert“, erinnert sich die Mutter. Aber eine Alternative hatten sie nicht. Das Einleben in das Zweibettzimmer, wo nur die vielen Puppen auf der Anrichte in der Ecke, eine Kuckucksuhr aus Plastik an der Wand und zwei Plüschteddys auf dem Bett an früher erinnern, war hart. „Ich habe gelitten“, sagt die zierliche kleine Frau mit den kurz geschnittenen weißen Haar: „Viele Wochen. Jeden Abend.“

14 Monate danach ist Madame Baraux immer noch eine der jüngeren Bewohnerinnen des Heims „Les Tilleuls“ – die Linden – in Triel sur Seine, 35 Kilometer westlich von Paris. Aber sie hat sich gefügt. Wenn sie jetzt auf den in Pastell gestrichenen breiten Gängen unterwegs ist, rollt sie eine Geh-hilfe vor sich her: „um nicht hinzufallen, weil ich so schlecht sehe“. Trägt schon am Nachmittag Nachthemd und einen himmelblauen Morgenrock. Sagt: „Man muss sich mit dem zufrieden geben, was man hat.“ Nennt ihre Söhne „formidabel“, weil die jeden Sonntag zu Besuch kommen. Und findet nichts als lobende Worte, als sie dem Heimdirektor begegnet: „Ich werde gut gewaschen. Ich werde gut bekocht. Ich werde gut behandelt.“ Eine einzige Bitte hat Madame Baraux. „Monsieur le directeur“, sagt sie mit charmantem Lächeln, „ich hätte sooo gern ein Einzelzimmer.“ Eric Lorton verspricht: „Ich werde mich kümmern.“

Im August sind in Les Tilleuls mehrere Zimmer frei geworden. Als das Quecksilber auf bis zu 40 Grad kletterte, fuhr binnen zwei Wochen sechsmal der Leichenwagen vor. Aus dem zweistöckigen Gebäude holte er zwei alte Menschen ab, deren Tod lang angekündigt schien. Und vier, die eigentlich noch rüstig schienen, die Rekordtemperaturen aber dennoch nicht überlebten. Sie füllen jetzt die Statistiken über die „Hitzetoten“ in Frankreich.

Für Les Tilleuls und andere Altersheime war es die größte Katastrophe seit Menschengedenken. Noch im Frühjahr hatte die Heimleitung den üblichen „Hydratisierungsplan“ aufgestellt. Hauptthema: „Trinken, trinken, trinken.“ Denn alte Menschen verlieren das Durstgefühl. Doch auf eine so lange Rekordhitze im August war niemand eingestellt. „Sonst kommt es am Frühlingsanfang und am Herbstende vermehrt zu Todesfällen“, sagt Direktor Eric Lorton, „im Hochsommer ist so etwas noch nie vorgekommen.“

Als sich die Hiobsbotschaften häuften, brach der Direktor seinen Urlaub ab. Zu den KrankenpflegerInnen sagte er: „Ne vous attachez pas“ – binden Sie sich nicht. Diese Empfehlung sei in französischen Krankenhäusern und Altersheimen üblich, erklärt der Direktor – „damit es nachher nicht zu hart wird“.

PflegerInnen, die nicht verreist waren, hasteten in jenen heißen Tagen von einem Zimmer zum nächsten. Verteilten Wasser. Zogen Wolljäckchen aus. Lüfteten. Fühlten Pulse. Verteilten Medikamente. Und versuchten Mut zuzusprechen, wenn Zeit dazu blieb. Eine Klimaanlage hat Les Tilleuls nicht. Anfang August machte sich Oberschwester Michèle Bernard auf, Ventilatoren zu kaufen. „Aber da gab es schon keine mehr in den Geschäften“, erinnert sie sich. Die vielen Toten erklärt sie so: „Die Menschen, die uns verlassen haben, waren schon sehr geschwächt.“ Ihre KollegInnen und sie hätten „getan, was nötig war“. Dann fügt sie hinzu: „Mit mehr Personal – wie bei Ihnen in Deutschland – wäre natürlich alles leichter.“

Les Tilleuls hat einen Ruf als gut geführtes Altersheim. Zudem ist es preiswert: Seine 60 BewohnerInnen zahlen je nach Pflegebedürftigkeit zwischen 1.582 und 1.851 Euro pro Monat. Die meisten können das Heim nicht allein verlassen, viele sind bettlägerig, ein großer Teil ist verwirrt, häufig leiden sie an Alzheimer. Das Alter ist hoch: Die 55 Frauen haben durchschnittlich 85 Jahre auf dem Buckel, die Männer 78. Entsprechend niedrig ist ihre „Verweildauer“, wie es in der Sprache der Sozialstatistiker heißt. Wer in Les Tilleuls ankommt, hat in der Regel noch 3,3 Jahre vor sich.

Seit Eric Lorton vor zehn Jahren die Heimleitung übernahm, hat sich in Les Tilleuls einiges geändert: An den Zimmertüren haben die Nummern den Namen der Bewohner Platz gemacht. Einmal im Monat gibt es nun Geburtstagsfeste, Filmvorführungen, Gymnastikstunden und Ausflüge. Die drei Aufenthaltsräume sind in hellen Farben möbliert. Und in den Regalen stehen Bücher, die neu sind wie im Geschäft. „Hier liest fast niemand“, sagt der Direktor.

Parallel ist ganz allmählich die Belegschaft gewachsen. 40 Personen arbeiten inzwischen in dem Altersheim – Sekretärinnen, Putzfrauen und Handwerker inklusive. Das entspricht einem Schlüssel von 0,7 Beschäftigten pro BewohnerIn und liegt über dem Durchschnitt. Im Alltag bedeutet es, dass die Ärztin 22 Stunden in der Woche in Les Tilleuls ist, dass der Psychologe und der Krankengymnast halbtags da sind und tagsüber drei, nachts zwei KrankenpflegerInnen anwesend sind. Bei 47 Heimbewohnern, die jeden Tag gewaschen und angekleidet werden müssen, ist das nicht viel.

Das Heim untersteht dem Sozialministerium und der Gemeinde. Direktor Eric Lorton verlangt seit Jahren mehr Personal. Sein Hauptargument ist die Qualität der Betreuung: „Wenn täglich fünf statt drei Krankenpfleger im Dienst sind, können sie mehr für die Bewohner tun.“ Das Gegenargument der anderen Seite war immer das Geld: „Zu teuer.“ Eric Lorton ist überzeugt, dass sich diese Situation jetzt ändern wird. „Die Regierung ist zwar nicht für die Hitze verantwortlich“, sagt er, „wohl aber für ihre medizinische und soziale Politik.“ Die gerade einberufenen fünf nationalen Arbeitsgruppen und die Ankündigung neuer finanzieller Mittel für die Altersheime geben ihm Hoffnung. „Es ist eine Schande“, sagt er, „dass dafür erst so viele Menschen sterben mussten.“

Von den großen Fenstern von Les Tilleuls aus scheint der spitze mittelalterliche Kirchturm in der Ortsmitte von Triel sur Seine zum Greifen nah. Die meisten BewohnerInnen des Heims haben ihr früheres Leben in dem Ort und seiner Umgebung verbracht. Seit sie die Schwelle zu Les Tilleuls überschritten haben, gehen nur noch wenige zurück. Dabei ist das Tor aus Eisengitter nur zugezogen – „als Hürde für die Alzheimerpatienten, die sonst fliehen und sich verirren könnten“, sagt der Direktor. Abgeschlossen ist das Tor nicht.

„Es ist eine Schande, dass so viele Leute sterben mussten“

Besucher von draußen verirren sich selten ins Heim. Die Familien? Oberschwester Michèle Bernard und Altenbetreuerin Adelaide Pinto lachen bitter. „Die kümmern sich viel zu wenig“, sagen die beiden Frauen, die seit Jahrzehnten mit alten Menschen arbeiten, wie aus einem Munde. „Fünf, maximal sieben Familien“ kommen regelmäßig auf Besuch. Die anderen, so Adelaide Pinto: „haben ihre alten Leute abgeliefert. Zahlen die monatlichen Gebühren. Und halten die Sache für erledigt.“

Die Absicht, die Alten loszuwerden, wird oft schon bei Erstkontakten deutlich. Heimleiter Lorton erlebt, dass die Familien ihre alten Angehörigen weder fragen noch informieren. „Du kommst für einen Monat ins Hotel“, lügen sie, „bis wir aus dem Urlaub zurückkommen.“ Es gibt BewohnerInnen, die anschließend monatelang darauf warten, abgeholt zu werden. Lorton hat daher folgenden Satz in die Aufnahmepapiere geschrieben: „Die Aufnahme in ein Altersheim ist ein wichtiger und manchmal schmerzhaft Moment. […] Es erscheint mir wünschenswert, die ältere Person über das Vorhaben zu informieren.“ Aber der Heimleiter kennt auch die andere Seite. Er erzählt von „Kindern“ der Bewohner, die selbst weit über 60 Jahre alt und gebrechlich sind. Und von Familiendramen, die das Alter nicht vergessen macht. Neulich erst hat er auf der Straße einen Mann gefragt, warum er nie zu seinem Vater ins Heim kommt. „Er hat mich verlassen, als ich zwölf war“, lautete die Antwort.

An der Stelle von Les Tilleuls eröffnete schon 1674 ein Hospiz für besonders bedürftige Kranke. König Ludwig XIV. stiftete dafür 6.000 Livres. Die offizielle Umwidmung zum Altersheim kam dreihundert Jahre später. 1970 wurden solche Einrichtungen vielerorts im Land eröffnet. Freilich mit anderem Namen. „Altersheim“ klingt in französischen Ohren hässlich und respektlos. Die neuen Einrichtungen wurden „maisons de retraite“ getauft – Ruhestandshäuser – oder: „résidences pour personnes agées“ – Residenzen für ältere Menschen. Dabei ist es geblieben.

Bevor er sich für Les Tilleuls entschied, hat der Lagerarbeiter Franck Verrier dutzende von Altersheimen im Westen von Paris besichtigt. Er berichtet von Sterbestationen, „wo die Leute mit Bettüchern an ihre Stühle gefesselt waren“. Jetzt füttert er seine an Alzheimer erkrankte Mutter. In ihrem Gesicht klebt ein Rest Omelett. Ihr Enkel schaut von der gegenüber liegenden Seite des Resopaltischs zu. Die Großmutter strahlt. An diesem Abend im August sind er und sein Vater die einzigen Besucher. Verrier kommt mehrmals pro Woche nach der Arbeit vorbei. „Sie hat mich auf die Welt gebracht“, sagt er, „ich lasse sie nicht im Stich.“

Im Nachbarraum wird das Menü für jene serviert, die noch allein essen können. Die meisten tragen Nachthemd. Fast alle sitzen allein. Wer den Raum betritt, geht zu einem leeren Tisch. Schweigend und ohne Gruß. An einem Tisch haben sich drei Personen in Straßenkleidung versammelt. „Die Suppe ist köstlich“, schwärmt Louise Davin. Der früheren Sekretärin sieht man ihre 90 Jahre nicht an. „Hätte ich nicht besser machen können“, bestätigt Madeleine Blanquet (80). Ihr Gatte André, früher Eisenbahner, sitzt im Rollstuhl neben ihr. Die Blanquets sind das einzige Paar im Heim. Sie kamen, als das Einkaufen und Kochen zu schwer wurde. „Wir sind zufrieden hier“, sagt Madame und legt die zierliche Hand mit den perlmuttfarben lackierten Fingernägeln auf den Arm von Monsieur, „ich hoffe bloß, dass es bald Winter wird. Richtig schüttelkalt.“