Bruder Schill

Schill ist weg, Schill ist immer noch da. Nichts ist in Ordnung, Ole von Beust kein Heldund die Fehler früherer Jahre wurden nicht aufgearbeitet. Betrachtungen eines ehemaligen Hamburger SPD-Innensenators über „Primitivität als Weltanschauung“

von HARTMUTH WROCKLAGE

“... besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Hass ist das Sich-wieder-Erkennen...“ (Thomas Mann)

Das war es also? Hat Ole von Beust, der „Bürgermeister der Herzen“, der neue führungsstarke Weiße Ritter an der Spitze des Senats, endlich Ordnung geschaffen und Ronald Schill, der sich nun für alle erkennbar als rabenschwarzer Bösewicht geoutet hat, politisch platt gemacht? Ist Schill trotz zu erwartender politischer Querschüsse, für die er immer noch gut bleibt, ein für alle mal weg vom Fenster?

Angesichts des fast ungeteilten medialen Zuspruchs für von Beust „am Tage danach“ könnte man meinen: Endlich hat Hamburg wieder einen neuen Helden. Endlich ist die Welt wieder in Ordnung in der Freien und Hansestadt. So einfach ist das? Schill passé, alles ok?

Keineswegs. Es gibt ihn noch, diesen Schill, es gibt sie noch, die Schill-Partei, die jetzt allerdings bestrebt ist, sich hinter ihrem langen Namen „Partei Rechtsstaatliche Offensive“ zu verstecken, um sich von ihrem Gründer abzusetzen. Jedenfalls derzeit noch ist diese rechtspopulistische Partei der Garant für die Parlamentsmehrheit von Bürgermeister Ole von Beust.

Als politisches Phänomen ist Schill noch lange nicht erledigt. Das hat nämlich nur begrenzt etwas damit zu tun, ob Schill als Person an der Macht ist oder nicht. Schill hat Wirkungen erzielt, die über die aktuellen Ereignisse weit hinausgehen, die vor seiner Wahl zum Senator begannen und die nach seiner Entlassung nicht einfach zu existieren aufhören. An diese fortdauernde Wirksamkeit erinnert sich in Hamburg aber niemand gern; und gerade die politisch und publizistisch Verantwortlichen möchten derartige Reminiszenzen aus dem eigenen und dem öffentlichen Bewusstsein der Stadt möglichst heraushalten.

Das ist ein Problem des Willens zur Selbsterkenntnis, des „Sich-wieder-Erkennens“: einer Selbstbegegnung, die bekanntlich durchaus schmerzlich sein kann; dann jedenfalls, wenn man wie Thomas Mann in seinem Essay „Bruder Hitler“ aus dem Jahre 1939 versucht der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, indem man, ohne eine zu große Distanz aus Gründen des Selbstschutzes oder der Selbst-Exkulpation zuzulassen, dem Wesen eines politischen Phänomens nachspürt, und zwar im Kontext mit den Faktoren, die es haben wirksam werden lassen.

Auf Hamburg bezogen stellt sich die Frage, wie in dieser liberalen Stadt mit ihren in der großen Mehrheit toleranten Menschen die „Primitivität als 'Weltanschauung'“ (Mann) an die Macht hat kommen können, als die Hamburger mit einem Anteil von fast 20 Prozent der Stimmen die Schill-Partei wählten. Nach all den schmerzlichen Erfahrungen der Deutschen mit ihrer Geschichte – wie konnte ein publizitätssüchtiger Amtsrichter „Gnadenlos“, wie konnte ein ebenso gnadenloser Rechtspopulist das schaffen? Wie war es möglich, dass ihn seine politisch unsauberen Methoden in das Amt des Zweiten Bürgermeisters und, wichtiger noch, in das Amt des Innensenators führten?

Die Antworten darauf liegen klar auf der Hand: Zunächst ist, auch dies eine Frage der Selbsterkenntnis, ehrlicherweise einzuräumen: Es gab objektiv Anlässe für Ärgernisse in der Bevölkerung wie etwa die Drogenszene (die in der Folgezeit auch Schill nicht beseitigt, sondern nur optisch verdrängt hat); es gab Probleme mit einer hohen Raubkriminalität insbesondere unter Jugendlichen (und ein erfolgreiches Anti-Raubkonzept, das aufgrund der guten Ermittlungsergebnisse naturgemäß allerdings die Kriminalstatistik mit hohen Fallzahlen „verschlechterte“; hiervon hat Schill nach Amtsantritt profitiert); es gab aber auch unverständliche Entscheidungen von Richtern, die von der Justizsenatorin nicht zu kontrollieren waren; und es gab einen Innensenator, der sich angreifbar gemacht hatte. Und nicht zuletzt gab es eine SPD-Führung, die gegen anders lautenden Rat bis in den Wahlkampf hinein Innere Sicherheit für das falsche Thema und die falsche Akzentsetzung hielt und nicht zu der verabredeten Innenpolitik stand.

Schill nutzte diese für ihn hervorragende Ausgangslage konsequent aus. Aus seiner Position als nahezu unangreifbarer Amtsrichter mit zu Unrecht geliehener Staatsautorität, vor allem aber mit massiver publizistischer Rückendeckung hat er sich aller Instrumente einer typisch rechts-populistischen Politik bedient, die Rechtspopulisten in Europa eine geradezu verführerische Macht über anfällige Gemüter zu geben scheinen, gleich ob in Österreich, den Niederlanden oder anderswo und eben auch in Deutschland, zumal in dem Kochkessel eines Stadtstaates wie Hamburg. So hat Bruder Schill die vorhandenen Ängste geschürt; er hat die in der Verantwortung stehenden politischen Gegner als unfähig diskreditiert und sie als unwillig gebrandmarkt, den eigentlichen Willen des Volkes umzusetzen; er hat mit unhaltbaren Versprechungen das Heil einer sicheren Stadt durch einen starken Staat verkündet und dies alles an der leicht emotionalisierbaren Sicherheits- und der Ausländerpolitik festgemacht.

Aus seiner eindimensionalen Denkweise heraus hat Schill die Politik seiner Partei auf einen einzigen Punkt, Sicherheit durch Repression, fokussiert, bestehende Probleme in geradezu schamloser Weise überdimensioniert und die so erzielte Stimmung für sich in Stimmen umgesetzt.

Das hätte er allein mit seiner kleinen Partei nicht geschafft, wäre ihm nicht massive Wahlhilfe gewährt worden. Diese Hilfe wurde geboten von einem gleichermaßen lautstarken und vielstimmigen Posaunenchor, der Schill und seine Parolen bewusst und gewollt verstärkte: Die Hamburger Blätter des Springerkonzerns, in der Hansestadt mit einer fast absoluten Medienmacht ausgestattet, machten für ihn mobil. Mit Hilfe von Schill wollten sie den eigenen Begriff von Sicherheit und Ordnung durchsetzen: insbesondere eine Null- Toleranzpolitik nach dem Vorbild New Yorks und eine Drogenpolitik nach dem Ideal der „Ordnungszelle Bayern“, das als Leitbild schon in der Weimarer Republik eine fatale Rolle gespielt hatte. Darüber hinaus verfolgten die Springer-Zeitungen die viel weiter reichende Absicht, den rot-grünen Senat mit allen Mitteln zu kippen und endlich die CDU mit Schill als Mehrheitsbeschaffer an die Macht zu bringen – für Schill eine hervorragende Ausgangslage.

Damit aber nicht genug: Es gab weitere sehr konkrete Gründe für den Wahlerfolg von Schill: Erstens wurde der Rechtspopulist von einer Minderheit in der Bevölkerung unterstützt, die vorher rechtsextremistisch gewählt hatte; diese Minderheit mit einem Wählerpotenzial von etwa 9 Prozent identifizierte sich weitgehend mit Schill. Zweitens fühlte sich so mancher ehrbare Hamburger von Schills radikalem Verbalismus unmittelbar angesprochen; für sie repräsentierte Schill mit seiner null-toleranten law and order- Politik und seinen ausländerfeindlichen Parolen etwas, was sie insgeheim selber dachten. „Bruder Schill“ war geboren.

Und auch im Amte konnte sich Schill trotz begrenzter Einzelkritik bei seinen Eskapaden auf die massive Unterstützung der Hamburger Pressezaren verlassen – ebenso wie natürlich der gesamte Rechts-Senat unter von Beust. Schill und Schill-Partei waren zu einem wesentlichen Faktor im Machtgefüge des schwarzen Senats geworden.

Dabei erschöpfte sich die Wirkung von Schill keineswegs darin, dass die Schillpartei bei der Bürgerschaftswahl 2001 fast ein Viertel der Stimmen der Hamburger Wähler auf sich hat vereinigen können, darunter viele Sympathisanten aus der Stammwählerschaft der beiden großen Volksparteien. Schills Wirkungen reichen tiefer: Er hat mit seiner Politik vor allem die beiden Volksparteien, CDU und SPD, stark beeinflusst.

Die CDU, früher einmal eine durchaus progressive Großstadtpartei, die sich zum Beispiel in der Drogenpolitik verdienstvoll für Gesundheitsräume einsetzte, erlag einem massiven Rechtsruck. Der von Haus aus hanseatisch-liberale Spitzenkandidat von Beust, der vielen Rechtskonservativen eben wegen seiner Liberalität als zu weich galt, holte sich mit Roger Kusch (CDU) einen sog. Sicherheitsberater, der mit radikalen Sprüchen den hardliner, den „Schill der CDU“, gab und mit populistischen Sprüchen seinerseits versuchte, Schill im Wahlkampf das Wasser abzugraben, etwa indem er behauptete, Rot-Grün wolle die ohne Zweifel besorgniserregende Kriminalität in der Stadt gar nicht konsequent bekämpfen. Auch wenn Kusch, in das Amt des Justizsenators gewählt, einige seiner Wahlkampfaussagen relativierte: Er ist nach wie vor seinem Rechtsaußen-Kurs treu geblieben. Und nach wie vor steht die CDU in der Furcht vor der Schill-Partei.

Eine weitere Dauerwirkung Schillscher Kampfansagen ist zu benennen: Der im Verein mit der Springerpresse herbeigeführte Rechtsruck der SPD in Richtung CDU. Der Druck der veröffentlichten und dann auch der öffentlichen Meinung wurde so groß, dass er die führenden Genossen in Partei, Fraktion und Senat in ihrer Standfestigkeit erschütterte. Sie hofften, mitten im Endspurt dieses Wahlkampfes durch Ablösung des eigenen Innensenators, durch Symbolhandlungen (wie der Einführung der zuvor massiv abgelehnten Brechmittel bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität) und mit einem nach rechts angepassten Vokabular die Gunst der Springer-Presse und damit das Wohlwollen der Wähler zurückzugewinnen, die nach rechts abzuwandern drohten: ein naives Unterfangen, weil sie mit diesem Opportunismus die Springerpresse mit ihrer viel weiter reichenden Strategie nicht einfangen konnte und die eigene rot-grüne Regierungsmehrheit erst recht verspielte. Denn viele grüne Wähler fanden sich in der nach rechts gerückten Senatspolitik nicht wieder. Statt also programmgetreu für ihre eigene Politik der Inneren Sicherheit vor Ort zu kämpfen und Überzeugungsarbeit bei den Bürgern gerade in einer kritischen Situation zu leisten und mit der eigenen Politik in die Offensive zu gehen, vollzog die SPD-Führung in letzter Minute die große Wende: Jetzt glaubten Parteivorsitzender und Bürgermeister sich in der öffentlichen Meinung nur noch dadurch behaupten zu können, dass sie sich inhaltlich, personell und verbal der rechtskonservativen Linie annäherten. Was die Führungsgenossen damals und bis heute nicht begriffen haben ist, dass sie mit dieser ihrer Anpassungstaktik wesentliche Teile des grünen Wähler-spektrums verschreckten und – schlimmer noch – das Wasser der öffentlichen Meinung erst recht auf die Mühlen von Schill lenkten. Bis heute zeigen diese Genossen kein Interesse daran, ihren Teil der eigenen Verantwortung für den Machtverlust im Jahre 2001 zu erkennen und zu übernehmen.

Wie man es auch dreht und wendet: Schill hat jedenfalls eine viel weiter reichende politische Wirkung erzielt als sie in seinem auch schon für sich gesehen beachtlichen 20 Prozent-Erfolg bei der Bürgerschaftswahl 2001 zum Ausdruck kommt. Die Tiefenwirkung, die er erreicht hat, besteht in einer Parallelverschiebung des gesamten politischen Spektrums nach rechts. Und darüber hinaus hat Bruder Schill die bisher in Hamburg so sorgsam gehütete politische Kultur schlicht demoliert. Und einmal medial groß geworden, wirkt er in dieser Richtung weiter, auch wenn er derzeit als verbrannt gilt.

Begreift man Bruder Schill als politisches Phänomen, besteht auch für den derzeitigen Helden des Hamburger Senats aller Anlass, in den Spiegel zu blicken. Denn Ole von Beust wusste sehr wohl oder musste wissen, auf wen er sich mit Schill als Koalitionspartner einließ: auf einen wild gewordenen Amtsrichter Gnadenlos und hitzköpfigen Rechtspopulisten nämlich, der von Teamarbeit oder gar einem diskursiven Politikstil noch nie etwas gehört hatte und stattdessen unkontrolliert den harten Mann spielte und spielt (nachgiebig bis zur Grenze mangelnder Dienstaufsicht nur gegenüber den Interessen des Polizeiapparates, dessen politischen Vorgaben er sich mehr oder weniger blind beugte). Insofern ist Schill nicht der einzige Sündenbock für die Vertrauenskrise im Hamburger Rathaus. Ole von Beust hat sich die personellen Rahmenbedingungen in seiner Regierung, an denen er beinahe gescheitert wäre und noch immer zu scheitern droht, höchstselbst geschaffen.

Derzeit zwar hat Bruder Schill seine Schuldigkeit getan. Er kann also gehen. Schill, der instrumentalisierte Rechtspopulist, ist genau so lange im Amte gehalten worden, wie er für Machtgewinn und Machterhalt einer rechtsgerichteten Landesregierung nützlich war; vorerst ist er weg von den staatlichen Schalthebeln. Aber Bruder Schill kann bei Bedarf durchaus wieder reaktiviert werden. Er ist Sprachrohr gewesen und kann es bei der Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung erneut werden, wenn es ihm etwa gelingt, einen öffentlichkeitswirksamen Gang nach Canossa zu inszenieren und sich als geläuterter Politiker zu präsentieren, der gefehlt und gesühnt und der sich auf diese Weise die Chance eines Neubeginns verdient hat.

Deswegen darf Bruder Schill auch künftig nicht aus den Augen gelassen werden. Denn ob im Amt oder nicht: Schill war nichts anderes als der Ausdruck einer in Hamburg vorhandenen Strömung, die aufgrund der Wirkung der Medien auch die politische Landschaft verändert hat. Und auch wenn Ronald Barnabas Schill als Person politisch endgültig verbrannt sein sollte, seine Funktion kann immer noch ein anderer „Bruder Schill“ übernehmen.

Auch die rechtspopulistische Schill-Partei ist noch da und in Funktion. Sie bleibt die wesentliche Stütze der Hamburger Rechts-Regierung und ist höchst aktuell für die Mehrheitsfähigkeit des Rechts-Senates von entscheidender Bedeutung. Schills Parteigänger, gerade erst aus der Bedeutungslosigkeit an die Macht getragen, wollen ihre Machtposition verteidigen. Und es ist nicht erkennbar, dass sich die Politik der Schill- Partei oder die des Senats inhaltlich ändern wird. Die von den Hamburger Springer-Zeitungen für richtig gehaltene Politik ist weiterhin gewährleistet.

Geblieben sind schließlich auch noch die Wähler von Bruder Schill, die ja nicht geschasst werden können. Sie müssen, soweit es eben geht, für eine andere Politik gewonnen werden.

Dies ist die Aufgabe der Oppositionsparteien. Die Grünen sind ihrer Linie aus der Regierungszeit treu geblieben. Sie machen eine harte Opposition in der Sache und sind auf gutem Wege. Die nach rechts gerückte Hamburger SPD hat eine wirklich ehrliche Bestandsaufnahme über die Gründe ihres Wahlverlustes im Jahre 2001 noch vor sich. Ihre Repräsentanten insbesondere in der Bürgerschaftsfraktion machen auf dem Gebiet der Innenpolitik eine nach rechts angepasste Oppositionspolitik, die sich weniger auf Inhalte konzentriert als auf eine durchaus wirksame Kritik von Stil- und Verfahrensfragen. Inhaltlich verwechseln sie noch Innenpolitik mit Polizeipolitik und tanzen nach der Pfeife der Gewerkschaft der Polizei. Für sie signalisiert Bruder Schill ein Abgrenzungsdefizit und einen Reorientierungsbedarf. Das Management von Stimmungen und der geschickte Umgang mit Medien reichen allein für seriöse inhaltliche Politik eben nicht aus.

Bruder Schill als politisches Phänomen (mit oder ohne Schill als Person) wird in Hamburg jedenfalls noch lange Zeit wirksam bleiben.

Wenn wir aus den politischen Vorgängen der jüngsten Zeit, insbesondere aus der Schmach, die Schill für Hamburg bedeutet, etwas lernen können, dann ist das ein „Sich-wieder-Erkennen“; dann ist das der Wille zum Widerstand gegen die „Primitivität als 'Weltanschauung'“ – auch und gerade, wenn es um die Regierungsmacht geht in Hamburg oder anderswo. Zum Beispiel in Berlin.