Der Indien-Trend

Ein bisschen Exotik, ein bisschen Spiritualität – Indian Lifestyle ist auch in Deutschland in. Das Bollywood-Fieber schwappte aus London herüber

Im Radio wummern Bhangra-Musik und der Hit „Mundian To Beach Ke“

von KATJA WINCKLER

Schuld war Bollywood. Nach dem Konsum einer einschlägigen Videokassette war die Tanzlehrerin Traute Schlabach angefixt. Sie studierte die Bewegungen und Tanzschritte der Schauspieler aus den indischen Liebesfilmen – und gibt seit kurzem unter dem Namen „Aziza“ Workshops in ihrem Weddinger Studio. In bauchfreier orientalischer Montur zeigt die 37-Jährige Mädchen und Frauen deutscher und indischer Herkunft, wie man stilecht tanzt und dabei mit dem Kopf wackelt. Aziza hat den Nerv der Zeit getroffen.

Das kommt nicht von ungefähr: Die coolen Neunziger sind out. Und die Indienwelle ist von England zu uns herübergeschwappt. Derweil schießen – von Flensburg bis Würzburg – indische Restaurants und Imbissstuben wie Fliegenpilze aus dem Boden. Im Radio wummern Bhangra-Musik und der Hit „Mundian to Beach Ke“ von DJ Panjabi. In den Kinos laufen Bollywood-Filme, und in den Buchhandlungen liegen opulente Indienbildbände. In Einrichtungsgeschäften – von Teppich Kibek bis Ikea – haben sich Seidenkissen und Holzelefanten zu Verkaufsschlagern gemausert. Frauen tragen Röcke aus Saristoffen und zehenfreie, perlenbestickte Schläppchen an den Füßen. Ganz Mutige kleben sich Verzierungen, so genannte Bindis, an die Stirn. Sogar der Kosmetikversand Yves Rocher hat nachgezogen und führt indisches Weihrauchparfüm in seinem Sortiment. Und in den Clubs in Hamburg, Düsseldorf, Berlin wird statt zu hartem Techno zu Bollywood-Hits getanzt.

Der 23-jährige Afghane indischer Herkunft Wekas Gaba veranstaltet solche Partys im Berliner Oxymoron. Inder, Pakistanis, Iraner, Türken, Asiaten und Deutsche kommen zu den Veranstaltung des Studenten. Dann wird bis in den Morgen zu Bhangra, R&B und Bollywood-Musik gefeiert. Zur Stärkung gibt’s Teigtaschen und Lassi-Jogurt-Getränke. Manche Frauen tragen Saris. Cooles Gebaren, das war gestern. Auf den Partys tauschen schlitzäugige mit indischen Frauen Wangenküsschen. Und türkische Jungs stehen Arm in Arm mit ihren asiatischen Kumpels.

„Das Besondere an unseren Partys ist ein bestimmtes Gefühl füreinander. Da spürt man eine menschliche Wärme, nach der sich viele sehnen“, sagt Wekas Gaba. Obwohl er auf den Folkloretrend setzt und damit gutes Geld verdient, möchte er mit den geläufigen Indienklischees von Saris, Elefanten und Rahmkäse aufräumen. „Wir wollen zeigen, dass man indische sehr gut mit europäischer Kultur verknüpfen kann.“ Deshalb gibt es zuweilen Modenschauen, die nach dem Motto „Jeans meets Sari“ europäische mit indischer Kleidung verbinden. Die Räume des Oxymoron sind schlicht eingerichtet – keine lachenden Buddhas oder schrille Krischna-Plakate. Dafür laufen im Hintergrund indische Musikvideos und Bollywood-Filme, denn Wekas Gaba weiß, dass diese Filme derzeit der Renner sind.

Sometimes happy, sometimes sad“ oder „Bollywood Hollywood“ waren in den Kinos Kassenschlager. Erstaunlich, denn immerhin dauern die in Bombay (daher Bollywood) gedrehten schwülstigen Liebesschmonzetten mindestens drei Stunden. Sie sind immer nach Schema F gestrickt: Frau verliebt sich in nicht standesgemäßen Mann. Die Eltern sind dagegen. Statt heißer Sexszenen gibt es Tanzeinlagen. Auch die indische Version des „Happy End“ ist für westlich sozialisierte Zuschauer ungewohnt, denn die Frau fügt sich dem Druck der Großfamilie – und wird dennoch glücklich.

Warum die Filme derzeit so beliebt sind und viele die Tänze lernen möchten, erklärt die Tanzlehrerin Aziza so: „Meine Schülerinnen empfinden dieses Schmachten und Augenaufreißen zwar als wahnsinnigen Kitsch. Aber sie haben gleichzeitig das Bedürfnis, sich auszuleben. Und das geht offenbar leichter mit fremdem als mit eigenem Kitsch.“ Walzer oder Jazztanz seien schon lange out. Und nach der Tango-, Salsa- und Merengue-Welle sei es höchste Zeit für etwas Neues, sagt Aziza.

Alles andere als neu, dafür seit mehr als 5.000 Jahren bewährt, ist Ayurveda, das Wissen vom langen Leben. Die indische Präventivmedizin umfasst Gebiete wie Massagen, Ernährung, Pulsdiagnose und Entschlackungskuren. Immer mehr gestresste Großstädter schwören auf die indische Medizin. Statt zum Pillendoktor zu gehen, lassen sich Hausfrauen, Lehrer und Selbstständige mit Ayurveda körperlich und seelisch wieder ins Lot bringen. Kopfmenschen wählen besonders gern den Stirnguss gegen innere Unruhe, Schlafstörungen und Augenschmerzen. Zwanzig Minuten lang fließt warmes Öl auf verschiedene Punkte der Stirn. Danach wird 30 Minuten geruht. Dass das ursprüngliche Ayurveda auf einfachsten Methoden beruht, wissen allerdings die wenigsten. Und dass man dasselbe Ergebnis durch Selbstbehandlung erzielen kann, ebenfalls. Wer seinen Kopf regelmäßig mit Öl selbst massiert, erziele die gleiche Wirkung, erläutert der indische Arzt Joshi Nikhil, der in Berlin eine Praxis betreibt.

Offensichtlich ist vielen die indische Kultur zu komplex, um sie im Schnelldurchlauf zu verstehen. Deshalb pickt man sich nach dem Baukastenprizip das heraus, was einem wohl bekommt. Wer heute im indisch angehauchten Outfit rumläuft, meditiert, Yoga macht und indische Musik hört, ist kein Aussteiger, sondern hip. Wer schmückt sich heutzutage nicht gerne mit ein bisschen Exotik und funktioniert gleichzeitig hervorragend in unserer Leistungsgesellschaft?

Das war anders in den 70er-Jahren, als der Indientrend das erste Mal Einzug in Deutschland hielt. Als echter Aussteiger fuhr man nach Indien, rauchte Joints und meditierte. Ohne Hippie-Look mit Wallewallekleid, Pluderhosen und Schläppchen ging gar nichts. Damals war der Indientrend eine gesellschaftliche Haltung, erzählt Tanzlehrerin Aziza. „Wenn du Ravi Shankar gehört, Räucherstäbchen angezündet und Yogi-Tee getrunken hast, war klar, wo du hingehörst.“ Heute sei das Interesse an Indien ein Modetrend, unverkrampft und ohne Dogma.

Der neueste Clou in Sachen indischer Lebensart ist wie so vieles andere auch ein Import aus London: das „Paradise Cab“. Die 50-jährige Dagmar Schultz hat sich den Limousinenservice in der englischen Metropole abgeguckt und ein englisches Taxi gekauft. Sie verkleidete den Innenraum mit rotem Samt und dekorierte ihn mit einem indischen Altarbild, einem Mandala, Kristallen und Seidenkissen. Und damit das Karma stimmt, hat sie ihr Taxi von dem indischen Heiligen Sadhu Maharaj weihen lassen. Wenn sie Hochzeitspaare, Jubilare und schwule Pärchen in die Kirche, ins Restaurant und in die Oper kutschiert, trägt sie einen Sari. Auch Promis haben Gefallen daran gefunden und schmücken sich gerne mit ein bisschen Spiritualität. Nur reich sein und erfolgreich wäre einfach zu profan. Deshalb lassen sich GZSZ-Sternchen im „Paradise Cab“ von Starvisagist René Koch mit Beauty-Anwendungen verwöhnen – vor laufender Kamera, versteht sich. Denn Indien ist chic. Zumindest diesen Sommer.