Unter Bewachung

Ob man Ilja Repin, den „russischen Rembrandt“, kennt, ist meist eine Frage der Herkunft aus Ost oder West. Die Alte Nationalgalerie Berlin zeigt seine vielen Facetten über das Klischee hinaus

von KATRIN BETTINA MÜLLER

So ein Fall ist selten. Großfürsten liebten den Maler Ilja Repin für seine Bilder der Wolgatreidler. Dichter und Revolutionäre erhofften von seinen Bildnarrationen, die in vielen Ecken und Schichten des Landes verortet waren, ein Bindemittel für eine neue, aufgeklärte russische Identität zu finden. Das war in der Zeit vor der russischen Revolution, als den Künsten für kurze Zeit eine große Macht der Veränderung zugetraut wurde. Später, unter Stalin, wäre ihm fast der Titel „Volkskünstler der Sowjetunion“ verliehen worden – aber nur fast. Der malerische Realismus von Ilja Repin liegt in der seltsam heroischen Schnittmenge, die das alte mit dem wiedererfundenen Russland und der Sowjetunion gemein hat.

Seine Bilder wurden aufgenommen wie die Begegnung mit einer Wirklichkeit, die vielleicht immer schon vor Augen lag, aber erst jetzt wie hinter einem weggezogenen Schleier kenntlich wurde. Die zeitgenössische Kritik hob seine Malerei in einen programmatischen Status. „Da ist der Typ, der neue Mensch, der in seinem ganzen Charakter, seiner Existenz zum Ausdruck kam. (…) Das sind gewaltige, gesunde, unbeugsame Menschen …“, begeisterte sich der viel gelesene Kritiker Stassow über die Wolgatreidler, Repins berühmtestes Werk, zu dem in der Alten Nationalgalerie Berlin Zeichnungen und kleine Varianten zu sehen sind. Die junge UdSSR sah in Repin einen Vorläufer des sozialistischen Realismus.

Mit der Ausstellung in der Alten Nationalgalerie Berlin und dem ausführlichen Katalog wird Ilja Repin nun als ein Maler wiederentdeckt, der die französische Malkultur des Impressionismus nicht nur mit den Themen der russischen Identitätsfindung zusammenbrachte, sondern auch in Porträts, etwa seiner Familie oder von Dichtern und Musikern, eine große Feinfühligkeit bewies. Neben den heroischen Repin tritt der poetische und psychologisierende, in größerem Ausmaß eine Figur des europäischen Fin de Siècle als seine bisherige Rezeption erkennen ließ. Diese Verschiebung ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass viele seiner monumentalen Formate in Russland blieben, zum Beispiel nicht entbehrlich waren für die Museen in St. Petersburg während der diesjährigen 300-Jahr-Feier. In den Porträtstudien, mit denen er die großen Formate vorbereitete, und den Skizzen, die das dokumentarische und anekdotische Detail oft zurücknehmen zugunsten einer emotionalen Zuspitzung, tritt viel deutlicher seine Freiheit als Maler hervor.

290 dieser Studien zeigte der Maler 1891 in seiner ersten großen eigenen Ausstellung in St. Petersburg. Da hatte er schon von ehemaligen Weggefährten den Vorwurf des „Verräters“ erfahren, weil er das „künstlerisch Feinfühlige“ gegen eine soziale und moralische Beanspruchung der Kunst verteidigte.

„Unter Bewachung (Auf schmutziger Straße)“ heißt eines der kleineren Bilder der Siebzigerjahre, aus der Hochzeit seiner Verbindung mit den intellektuellen Kräften, die auf Aufklärung als politisches Instrument gegen das Zarentum setzten. Viele von ihnen, oft begeisterte Russen, riskierten dafür die Verbannung. In dem schmalen Querformat verbindet sich dieser widersprüchliche Fakt mit einer flachen morastigen Landschaft, die dem Blick nirgendwo erfreuliche Aussichten bietet. Drei müde Pferde ziehen einen Wagen, auf dem zwei Gendarmen einen Verbannten in die Mitte genommen haben. Landschaft, Ereignis, Stimmung und Charaktere: Alles verschmilzt und sackt tief in dem dicken Matsch der breit gepinselten Malweise. Die bis zur Nachlässigkeit lockere Malweise ist hier sozusagen aus dem Sujet motiviert. So unspektakulär der Verbannte in Szene gesetzt ist, so gewiss konnte Repin eines Publikums sein, das den politischen Kontext bereitwillig einfügte. Landschaft, Nationalcharakter und Politik werden so zu Metaphern verwoben, denen man sich kaum entziehen kann.

Manche Themen brauchten lange, bevor Repin sie öffentlich zeigte. In der „Verhaftung des Propagandisten“ setzte sich der Maler mit der Bewegung der „Volkstümler“ auseinander, die versuchten, die Bauern zum Aufstand gegen den Zaren zu bewegen. Das kleine Bild entstand 1878, als vielen von ihnen der Prozess gemacht wurde. Das Licht auf dem Verhafteten und seinen Papieren, die Dunkelheit, in der sich die Agitierten und Zuschauenden wegducken – ein ganzer Roman lässt sich denken. Repin zeigte diese Bilder, die in der Dramaturgie an biblische Szenen angelehnt waren, selten.

Dicht ist das Gedränge in einem kleinen Kabinett der Alten Nationalgalerie vor dem Bild „Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan“ von 1880. Es ist eine volkstümliche und folkloristische Szene: Die Körper der Kosaken, jeder in einer anderen Dynamik, sind in der platten Landschaft dicht um einen kleinen Tisch zusammengerückt. Das Besondere ist die Empfindung, dass ihr Temperament, ihr Fleisch und Blut, alles ausmacht, was dort existiert. Diese widerständige, fröhliche Autonomie feiert die Vielheit im Bild, das vom nationalen Charakter hergestellt wurde.

Ganz anders sind Stimmung und Malweise der familiären Porträts. In „Ruhepause“ malte Repin seine junge schlafende Frau im Sessel. Gerade das Fehlen jeder repräsentativen Geste erzeugt eine Atmosphäre von Vertrauen und intimer Nähe. Auch seine Kinder porträtierte er immer wieder, unsentimental und ohne Verklärung. In Kompositionen, Lichtführung und Strich verarbeitete er dabei eine lange Kette an Vorläufern von Velázquez bis Manet. Diese weit gespannte Reflexion europäischer Malerei im Werk Repins brachte ihm nicht zuletzt den Titel „Rembrandt Russlands“ ein. So kennt ihn auch fast jeder, der in der DDR zur Schule ging, während Westdeutsche oft noch nie von Repin gehört haben.

Die Ausstellung endet mit späten und doch sehr aufregenden Bildern von 1905/06, „Auflösung der Demonstration, (Blutiger Sonntag)“ und „Rote Beerdigung“, die sich beide auf das gewaltsame Ende einer Demonstration in Petersburg beziehen. Der expressive und zusammenfassende Duktus der Malweise verschmilzt die Bewegungen, die Gesichter verschwimmen, Individuen lösen sich auf: Taumel und Trauma werden sichtbar. 1926 schenkte er diese Bilder dem Museum der Revolution. Da lebte er selbst, 82-jährig, schon seit zwanzig Jahren in seinem Landhaus in Finnland. Er war finnischer Staatsbürger geworden und Beobachter aus der Distanz.

Bis 2. November, Katalog 19,90 €