Der Witz der devianten Praktik

Routine und Störung: Steven Shainbergs Film „Secretary“ bringt Komödie und Sadomasochismus zusammen

Eigenartigerweise folgen die seelischen Leiden der Jugend einem kapitalistischen Marktgesetz: Sie kommen in Mode. Nach Magersucht und Bulimie ist das in den letzten Jahren die Selbstverletzung. Wie bei Kleider- und Frisurenfragen entwickeln besonders Frauen einen Hang zu solchen Diktaten. Und obwohl sie nicht gerade appetitlich sind, werden diese psychischen Störungen oft wie ein Hobby betrieben. Es sieht nach fast gelangweilter Routine aus, wenn Lee (Maggie Gyllenhaal) ihr handliches Schneideset auspackt, in dem Klingen, Desinfektionsmittel, Wattebausch und Pflaster so praktisch zusammengepackt sind, als könne man das Täschchen mit einem Etikett „Schmerzerleben“ bei Woolworth kaufen. Und es ist dieser Zusammenklang von Routine und Störung, der den leicht grotesken Grundton von „Secretary“ setzt. Lees Vater hilft sich mit regelmäßiger Hochdosierung von Alkohol, ihre Mutter damit, ihren gar nicht hilflosen Kindern ständig ihre Hilfe anzutragen. Die Vorliebe dafür, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, erscheint hier nur als eine Praxis von vielen, mit der die Mittelschichtsfamilie ihre brüchige Normalität in Gang hält.

Was das depressive Innenleben angeht, ist Lee also eine erfahrene Frau; in der Außenwelt der Realität mit großem R mangelt es ihr dagegen an Wissen und Praxis. Gerade aus mehrmonatiger Kliniktherapie entlassen, sucht sie sich den ersten Job ihres Lebens. Da sie nicht viel mehr beherrscht als die elementaren Kulturtechniken Schreiben und Lesen, bewirbt sie sich als Sekretärin bei Rechtsanwalt Edward Grey (James Spader). Auch Grey hat gewisse Anpassungsprobleme von Innenleben und Realität, was schon die Tatsache verrät, dass in seinem Vorgarten ein „Sekretärin gesucht“-Schild hängt wie anderswo der Hinweis „Zimmer frei“. Mit Begeisterung stimmt Lee seiner Frage zu, ob sie bereit sei, ungeheuer langweilige Arbeit zu verrichten. So lassen sich zwei Zwangscharaktere aufeinander ein.

Auch Sadomasochismus ist eine Art Modepraxis geworden. Im Fernsehen wird man immer öfter mit Menschen konfrontiert, die darauf bestehen, SM „ganz normal“ zu finden. Steven Shainbergs Film „Secretary“ führt vor, was daran so schräg ist. Für seine Hauptfiguren ist das sadomasochistische Verhältnis, das sie eingehen, alles andere als „normal“, es ist ein zuerst verstörendes, dann geheimes und immer besonderes Band zwischen ihnen, das Gegenteil von Normalität. Mit einer durchaus irritierenden Mischung aus Einfühlung und humoristischer Distanz wirft der Film einen unerschrockenen und – wichtiger noch – nicht blasierten Blick darauf, wie zwei Menschen zusammenfinden in sich gegenseitig ergänzenden Bedürfnissen. Angenehmerweise konzentriert er sich dabei nicht auf den Schauwert der Unterwerfungsrituale, sondern auf die Liebesgeschichte, auf das, was Lee und Edward davon haben.

Tatsächlich gleichen die paradoxen Wirkungsweisen devianter Praktiken oft einem Witz: Die Weigerung, Schmerz zuzufügen, kann die größere Qual bedeuten. Mit Genuss unterwirft sich Lee den absurden Anweisungen Greys, was es ihr auf einmal möglich macht, auch seinen „sinnvollen“ Forderungen zu folgen: sich der Überfürsorglichkeit der Mutter zu entziehen und sich nicht mehr selbst zu verletzen. Lee entdeckt ihre Lust an der Hingabe und gewinnt daraus ein ihr bislang unbekanntes Selbstbewusstsein, aus dem sie wiederum die Kraft schöpft, nun ihrerseits den im Selbstekel befangenen Grey zu „erlösen“.

Nicht alles, was im Film geschieht, mag man als „Realität“ akzeptieren. So präzise die Schilderung des von Neurosen geschwängerten Mittelstands ist, so spielerisch lässt der Film die Grenze zur Fantasie zwischen Wunsch und Wirklichkeit offen.

BARBARA SCHWEIZERHOF

„Secretary“. Regie: Steven Shainberg. Mit James Spader, Maggie Gyllenhaal u. a. USA 2002, 104 Min.