Von Geilheit und Zweifeln

Der Autor Thomas Jonigk hält den Theaterbetrieb für elitär, selbstbezüglich und inzestuös, darum verordnete er sich eine zweijährige Pause. Seine Stücke aber werden allerorten gespielt. Ein Porträt

Seine Stücke kreisen um Gewalt, seine Schocksprache erregt tief greifende Übelkeit

von DOROTHEA MARCUS

Er bestellt First Flush Darjeeling, den er nicht anrührt. Ich kriege alle drei Zuckerpäckchen. Denn Thomas Jonigk ist nett, das sagt er auch selbst. Viel freundlicher, als seine Stücke vermuten lassen, in denen gehasst, geschlagen, gefickt, erniedrigt, geschändet, missbraucht wird.

Er selbst ist dagegen ein „extrem sozialer Mensch“, der stabile Beziehungen führt, ehrenamtlich bei der Aidshilfe arbeitet, früher Altenpfleger war und sich weder in Darkrooms noch auf Szenepartys herumtreibt, geschweige denn auf Theaterpremieren. Thomas Jonigk sieht sanft aus, mit großen blauen Augen und weicher Stimme, und wenn man ihm eine Frage stellt, kann man sich entspannt zurücklehnen, während die Antwort sprudelt.

Nachdem Jonigk bis 1991 Mediävistik an der FU Berlin studiert hatte, wollte er zunächst an der Universität bleiben. Sein Promotionsstipendium führte trotzdem nicht zur Doktorarbeit, sondern zu seinem ersten Theaterstück – nahe liegend durch die Arbeit als Dramaturg beim freien Bühnenkollektiv Theater Affekt. „Von blutroten Sonnen“ war ein bösartig-groteskes Familiendrama, und auch die folgenden „Rottweiler“ und „Du sollst mir Enkel schenken“ waren Stücke über den katastrophalen Zustand der gesellschaftlichen Kleinzelle: voller Schuld, Machtmissbrauch, Inzest und Gewalt.

Jonigk malte ein elendes Weltmuster – in einer Zeit, in der Familiengewalt in jeder Nachmittagstalkshow behandelt wurde. Ihm Koketterie mit dem Elend oder Sensationslust vorzuwerfen, greift nicht – dazu ist seine Sprache zu kalt und gnadenlos. Es ist eine Übelkeit erregende, manierierte Schocksprache. Fast zwei Jahre blieben Jonigks Stücke liegen, dann ging alles ganz schnell: 1993 erhielt er den Preis der Frankfurter Autorenstiftung, 1994 gab es gleich drei Uraufführungen, 1995 war er Nachwuchsdramatiker des Jahres: der ganz normale Weg eines aufstrebenden Jungautors in einer Zeit, in der sich das deutsche Theater danach zu verzehren schien. Immer wieder wurden seine Stücke nachgespielt, übersetzt, gleichzeitig schrieb er Hörspiele, Texte für Kompositionen von Olga Neuwirth und Libretti.

Er war Dramaturg am Schauspielhaus Wien, inszenierte auch selbst. 1999 wurde er mit seinem ersten Roman „Jupiter“ nach Klagenfurt eingeladen. In „Jupiter“, der in Freiburg in einer Theaterfassung herauskam, erzählt die Hauptfigur Martin, wie er auf einer Toilette vielfach vergewaltigt wird, bis er an Blut und Kot, Sperma und Erbrochenem fast verreckt – und schließlich von Jürgen gefunden und erneut zum Objekt gemacht wird. Es gibt bei Jonigk kein Entrinnen, nirgends, nur manchmal die Ahnung von Liebe – und ein einziges Happy End der Missbrauchten bei „Täter“, 1999 von Christina Paulhofer in Hamburg uraufgeführt.

Beim Lesen seiner Texte fragt man sich manchmal, warum man sich das antut. Und warum er einem das zumutet: diese Ausblicke ohne Hoffnung. Manchmal wird man deshalb richtiggehend wütend auf Jonigk. Vielleicht ist es diese Wut, die er erzeugen will – immerhin ein Gefühl, viel klarer, als es das sensationsgesättigte Gefühl nach einer Talkshow je sein könnte.

Manchmal erleben seine Figuren Anflüge von Liebe. Meistens sind sie nur kurz. „Über Liebe kann ich nur in ihrer Abwesenheit schreiben. Sonst wird es kitschig“, sagt Thomas Jonigk und schreibt dennoch gerade an einem Liebesroman. Dass er die Welt mit seinen Texten retten wollte, wäre zu viel gesagt. Und dennoch: „Ich würde mich doch nicht so aufregen, wenn ich nicht hoffen würde, dass die Welt auch ganz anders sein könnte. Ich möchte Unrechtsbewusstsein, eine Art Aufschrei erzeugen: So will ich nicht leben, da muss sich doch mal was ändern.“

Die Frage, wie man mit Theater etwas bewegen kann, beschäftigt ihn. Ist es besser, massentaugliche, politisch korrekte „well made plays“ zu schreiben? Oder finden sperrige, unbequeme Texte zwar wenig Publikum, graben sich dafür aber tiefer ins Unterbewusste? Unter anderem weil er darauf keine Antwort findet, hat er seit zwei Jahren nicht mehr fürs Theater geschrieben – für diesen in seinen Augen selbstreferenziellen, inzestuösen und elitären Betrieb mit zweifelhafter Existenzberechtigung. Auch weil seine Stücke nur selten so inszeniert wurden, wie er sie gemeint hatte.

Er ist sogar aus zwei Aufträgen herausgegangen, in Wien und Hamburg. „Mich stört der Zynismus, der zum Stil geworden ist. Ich musste einen vorläufigen Schlussstrich ziehen, um meine Liebe fürs Theater nicht zu verlieren.“ Eine frühere Agentin sagte ihm einmal: „Man muss als Autor an den Punkt kommen, die Welt genauso interessant zu finden wie sich selbst.“ Das hat ihn so geschockt, dass er sich gerade deshalb um Bezug zur Außenwelt übt.

Auch wenn Jonigk gerade Theaterpause macht – in der neuen Spielzeit werden seine Stücke laufend gespielt. In Gießen findet am 27. September die vorerst letzte Uraufführung statt. In „Elixiere des Teufels“, seit 1999 fertig, hat Jonigk den Schauerroman von E. T. A. Hoffmann als absurdes Spiel von Wirklichkeitsschichten weiterbearbeitet. Die Hauptfigur, Mönch Medardus, ist auf weltlicher Irrfahrt und auf der Suche nach sich selbst.

Jonigk verwandelt die ausufernde Hoffmann-Handlung in einen psychischen Innenraum, ein schillerndes Stück über Schizophrenie und Wirklichkeitsverschiebung, die sich zwischen Krankheit und künstlerischer Notwendigkeit bewegt – zum Schluss weiß niemand mehr, welche die richtige Version der Realität ist. Zwischendurch brechen die Personen in Monologe über Künstlertum oder das Dasein an sich aus: „Wir sind mobil, kreativ, stehen nie still, bleiben am Ball, und doch: Alles, was bleibt, sind Geilheit und Zweifel.“ Auch die „Elixiere“ sind sexuell aufgeladen und brutal – und dennoch ist das Stück witziger, unterhaltsamer und klüger konstruiert als alles, was er bisher geschrieben hat. „Es entfernt sich weit von mir selbst“, sagt Jonigk und hat zum vorläufigen Abschluss seiner Theaterlaufbahn vielleicht sein bestes Drama geschrieben.

„Elixiere des Teufels“: Uraufführung am 27. September in Gießen