Eine deutsche Unheilsgeschichte

Hans-Ulrich Wehler hat endlich den lange erwarteten vierten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ publiziert. Darin erzählt und analysiert er die Jahre 1914 bis 1949 so klar und umfassend informiert, so verständlich und urteilsfreudig wie kein anderer Historiker. Kurz: Es ist ein Meisterwerk

Das Buch ist vom radikaldemokratischen Geist eines engagiertenCitoyens geprägt

von MICHA BRUMLIK

Es scheint paradox: Gerade probt die Bundesrepublik einen riskanten, neuen „Auftritt“ (Gregor Schöllgen) auf weltgeschichtlicher Bühne und muss zugleich die schwerste Strukturkrise seit ihrer Gründung bestehen. Da scheint es erstmals möglich, sich von der Geschichte des deutschen Nationalsozialismus, der der Menschheit den weltgeschichtlichen Tiefpunkt des Holocaust beschert hat, zu verabschieden. Im Leben von Individuen so gut wie im Leben von Kollektiven kann man sich von traumatischen Ereignissen verabschieden, wenn man sie in ihren Ursachen und Wirkungen verstanden zu haben glaubt.

Diesen gut begründeten Eindruck vermittelt der vierte Band von Hans-Ulrich Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“, die den Zeitraum von 1914 bis 1949 behandelt. Wehler hat damit – anders lässt sich dies Buch nicht bezeichnen – ein Meisterwerk vorgelegt, das nicht nur den nationalen und internationalen Forschungsstand der letzten Jahrzehnte souverän verarbeitet, sondern zugleich eine in sich konsistente Lesart dieser Geschichte vorlegt. Bei aller Nüchternheit ist das Buch geprägt vom radikaldemokratischen Geist eines engagierten Citoyens.

Vor dem Hintergrund einer streng Max Weber verpflichteten, handlungstheoretisch angelegten Gesellschaftsanalyse gelingen ihm dabei nicht nur panoramatisch angelegte und tiefenscharf ausgeführte Vignetten zu Einzelthemen, sondern zudem theoretische Fortschritte. So addiert er nicht Hans Mommsens funktionalistische Lehre von der NS-Polykratie zu Joachim Fests klassischer Hitler-Deutung als eines weltgeschichtlich einmaligen Diktators, sondern Wehler gelingt eine echte Synthese beider Sichtweisen, die ihr Fundament in Webers Theorie der charismatischen Herrschaft hat: „In der Aufklärung der Wechselwirkung zwischen diesem welthistorischen Individuum und seiner Gesellschaft“, so Wehlers Programm, „liegt … der Schlüssel zu einer rationalen Analyse des Nationalsozialismus.“

Charismatische Herrschaft hat ihre Chance in gesellschaftlichen Krisen, wenn bisherige Lösungswege versperrt sind, bisher gültige normative Orientierungen zerbröckeln und lange gehegte Erwartungen nicht erfüllt werden. Wenn von der politischen Kultur in derartigen Situationen nicht mehr übrig geblieben ist als die tradierte messianische Überzeugung von der Leistungsfähigkeit einzelner Persönlichkeiten sowie vom rettenden Charakter einer alle Spaltungen überwindenden Gemeinschaft, wenn sich also Radikalnationalismus und politische Religiosität verbinden – dann kann ein außerordentlich begabter Rhetor und Demagoge wie Hitler, ein politisches Medium ersten Ranges, Vertrauen und Hingabebereitschaft erst erzeugen und dann zu seinen wahnsinnigen Zwecken abschöpfen.

Wehler hält ungebrochen eine modifizierte Variante der These vom „Deutschen Sonderweg“ aufrecht und weist noch einmal nach, in welch chancenloser Lage sich die zermürbte deutsche Gesellschaft 1919 befand. Die antidemokratischen Haltung des trotz Krieg weitgehend intakten Wirtschaftsbürgertums und eines nationalistisch ideologisierten Bildungsbürgertums ließ eine tiefgreifende Kultur der Demokratie erst gar nicht entstehen. Nach der Weltwirtschaftskrise und der rigiden Deflationspolitik Heinrich Brünings schienen nur noch autoritäre Lösungen offen zu stehen.

Damit war der Gang in die NS-Diktatur und damit in Krieg und Holocaust noch immer nicht zwangsläufig. Eine handlungstheoretisch angelegte Gesellschaftsgeschichte wird auf keinen Fall deterministisch verfahren. Doch: für das Jahr 1932 bestand nach Wehlers ebenso nüchterner wie deprimierender Auskunft die einzige halbwegs realistische Alternative zur Machtübergabe an Hitler in einer Militärdiktatur, die zu errichten die politisierenden Generale der Reichswehr jedoch unfähig waren. An den Aufbau einer „linken“ Gegenmacht war aufgrund der Todfeindschaft der linkstotalitären, stalinistischen KPD gegenüber der Sozialdemokratie zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr zu denken.

Hitler verdankte seinen Aufstieg in den letzten, krisengeschüttelten Jahren der Weimarer Republik nicht dem Antisemitismus, sondern seinem ebenso ungenauen wie mitreißenden Appell an die rettende Volksgemeinschaft. Seine tiefsten Überzeugungen – den Willen, die Juden auszurotten und in Osteuropa Lebensraum zu erobern – musste er nicht preisgeben. Nach seinem Machtantritt, einer für Wehler echten Revolution, gelang es Hitler, Loyalität und Hingabebereitschaft bei den abhängig Beschäftigten durch eine Art Kriegskeynesianismus zu erreichen. Gleichzeitig baute er alle Errungenschaften der Rechtsstaatlichkeit im Einklang mit einem Bildungsbürgertum ab, das nach der Vertreibung jüdischer und demokratischer Intellektueller nur zu willig den „Totalverrat an der Zielutopie“ einer bürgerlichen Gesellschaft beging.

Diese Lesart der jüngeren deutschen Geschichte zu behaupten, ist einfach, sie im Einzelnen zu belegen und theoretisch zu begründen, umso schwieriger. Doch genau das leisten Wehlers vielfältige, stets flüssig in den Gang der Gesamtdarstellung eingelassenen Vignetten zur Zerrüttung der ohnehin blockierten deutschen Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges, zur Entwicklung des Antisemitismus, zum Ende der Weimarer Republik, zu Kirchen-, Sozial-und Bildungspolitik im Dritten Reich und zu vielen anderen Einzelaspekten jener Jahre.

Wehler sieht die „wahre Natur des Nationalsozialismus“ zu Recht in Vernichtungskrieg, Lebensraumimperialismus und Judenmord. Einsprüche hingegen muss sein entschiedener Versuch hervorrufen, den Judenmord wesentlich auf den Willen Hitlers zurückzuführen und so die These von der wesentlichen Rolle deutscher Wissenschaftler bei der Vorbereitung und Ausführung dieses Verbrechens als eine „verfehlte Variante der Modernisierungstheorie“ abzutun. Hier bricht ein Widerspruch auf: Hat Wehler doch bis zu diesem Punkt hartnäckig auf der destruktiven Rolle gerade des Bildungsbürgertums bestanden. Man tritt dem Autor kaum zu nahe, wenn man hier ein apologetisches Motiv vermutet. Dankt er doch im Vorwort persönlich loyal, in der Sache indes unverständlich seinem Lehrer Theodor Schieder, der in jüngeren Jahren als völkischer Akademiker aktiv an Ausmerzungsplänen beteiligt war.

Diese Schwäche kann jedoch den Wert des Buches nicht schmälern. Packend und klar geschrieben, ist es vor allem den Mitgliedern der politischen Klasse sowie allen Pädagogen dringend zu empfehlen. Wer heute – sei es im Bundestag oder in einem Kommunalparlament, in einer Berufsschule oder an einer Universität – folgenschwere Entscheidungen trifft oder staatsbürgerliches Bewusstsein zu bilden hat, sollte wissen, vor welchem historischen Hintergrund sie oder er dies tut. So klar, so umfassend informiert, so nachvollziehbar und urteilsfreudig wie bei Wehler bekommt man diese Unheilsgeschichte anderweitig weder erzählt noch analysiert.

Die Unheilsgeschichte kostete Millionen und Abermillionen von Juden, Polen und Russen, von Sinti und anderen Stigmatisierten des Sozialdarwinismus das Leben – unter entwürdigendsten und grausamen Umständen. Zehn Millionen Deutsche wurden zu Kriegs- und Vertreibungsopfern – 300.000 Deutsche haben sich ungesühnt an den Massenmorden beteiligt. Wird von der Last dieser Geschichte befreit, wer sie versteht?

Hans-Ulrich Wehler: „Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1919–1949“. C. H. Beck, München 2003, 1.200 S., 49,90 €