Die individuelle Entscheidung

Wie werden postmoderne Identitäten konstruiert? „insideout“ an der Schaubühne Berlin gibt eine Antwort. Das Tanzstück von Sasha Waltz ist eine interaktive Installation, die den Zuschauer einbezieht

Die Tanz-Compagnie: Ein Kaleidoskop von Lebensgeschichten aus aller Welt

von KATRIN KRUSE

Es beginnt mit einer Anweisung. Zwischen den Zuschauern, die sich im Halbunkel des Raums zögernd durch die Architektur bewegen, spricht ein Mann verhalten laut ins Megafon. Was anfangs wie die Beschreibung der Szenerie erscheint, richtet sich immer mehr ans Publikum: „No analysing, no wondering, no getting lost.“ Vielleicht braucht es sie, die kleinen Direktiven am Anfang. Denn „insideout“, die neue Produktion von Sasha Waltz an der Schaubühne, ist eine bewegte Installation. Sie sieht den Zuschauer als Akteur vor.

Die Bühne zeigt sich als Gebäude: eine zweistöckige Stahlkonstruktion, eine Vielzahl von Treppen, Ebenen, Räumen, durch schiebbare Wände und Vorhänge getrennt, mit Öffnungen, Türen, Klappen und Sehschlitzen, die den Blick freigeben auf andere Räume. Bespielbare Dächer, etwa das Kühlhaus: Dort liegt ein Cello noch verschlossen im Kasten, bewegungslos wie die Tänzer am Boden. Noch ist es still, nur die Schritte des Publikums. Dann erst setzt die Musik ein, ein Ton, ein halber darüber, Flächen von Dissonanz, darüber vereinzelte Akkorde des Klaviers im Fortissimo. Bewegung kommt in die Zimmer und die Performer beginnen, Geschichten zu erzählen – meist auf Englisch, denn das ist die Sprache, in der sich die Mitglieder der internationalen Compagnie treffen. Es sind Fragmente, Erinnerungen an die Vergangenheit, die eigene oder die der Mutter, der Großmutter.

Die chinesischstämmige Kanadierin Laurie Young etwa zieht ein Kleid ihrer Mutter an, einen altrosa Chipao, das traditonelle chinesische Etuikleid, zwischen Erinnerung und symbolischer Aussage. „I know what it means to me. I know what it means to other people.“ Das Kleid ist der zierlichen Tänzerin ein wenig zu eng. Sie zieht es aus, hängt es in die Kleiderhülle. Man geht weiter, und plötzlich ist Laurie Young wieder da, erneut im Quipao, und sie und Xuan Shi aus Yunnan, China, umkreisen einander, den Blick geradeaus ins Leere, und tanzen Tango wie einen Kampf.

Es ist der Wechsel vom Geschichtenerzählen, vom direkten, persönlichen Sprechen zu einzelnen Zuschauern zu den intimen Momenten zwischen den Performern, der „insideout“ Dichte verleiht. Wenn sich die Tänzer wie in einer auratischen Hülle inmitten des unvermittelt zum Voyeur gewordenen Publikums bewegen und die Nähe in den kleinen Räumen beklemmend wird. Wenn sich die Dynamik der Performer auf die Zuschauer überträgt, die Hast den ganzen Raum erfasst, Stockung und Geschwindigkeit sich im Wechselspiel entfalten.

Plötzlich wird das Tempo schneller, Trennwände werden rasant verschoben. Überall der Klang von Megafonen, ein Verhör: „What’s your name?“, „Where have you been“, „Who let you in?“. Rasant wird getippt, Formulare, Anträge, Visa, Aufenthaltsgenehmigungen. Schreie und Hämmern an einer Kiste, „Come out of there“. Das illustriert die Geschichte der Tänzerin Charlotte Engelkes. Großmutter und Mutter sind auf der Überfahrt nach Schweden. Ein Boot voller Frauen, bis auf den Großvater in der Kohlenkiste. Er wird entdeckt, sofort nach der Ankunft zurück- und dann nach Alaska geschickt. Sirenen ertönen. Es ist kein Entrinnen, kein Abstand des Betrachters.

In ihren letzten Stücken, der Trilogie „S“, „Körper“ und „NoBody“ hat Sasha Waltz abstrakter gearbeitet: mehr mit kreatürlicher Körperlichkeit als mit sozial geprägter, mehr mit dem Eindruck eines Kollektivkörpers, die Masse zum Ornament geworden, zum Panorama von Vielen.

„insideout“ nun sucht nach dem direkteren Kontakt mit den Tänzern und Tänzerinnen. Im Zentrum stehen deren Biografien. Die Anregung gab der Grazer Soziologe Karl Stocker, der versucht hat, die klassischen Theoretiker – Bourdieu, Barthes, Beck – mit den Erfahrungen der Tänzer und Tänzerinnen zu konfrontieren. Wie werden so genannte postmoderne Identitäten kontruiert?

Sasha Waltz ist eher an ihrer Compagnie als „Kaleidoskop an Lebensgeschichten aus aller Welt“ interessiert: Wie sich Traditionen der Länder vermischen, Werte und Überzeugungen wandeln, die Prägungen des Beginns „überformt, überschrieben werden“. Das Kaleidoskop ist in ständiger Bewegung. „Home is where we start from“, heißt es bei T. S. Eliot. „Genau“, meint Waltz: „Es ist aber eben nur der Anfang.“

Von diesem Anfang und von den Transformationen erzählt sie mit den eigenen Mitteln, der Sprache des Tanzes. Dabei ist der Tanz mehr als nur Medium. „Wie bist du zum Tanz gekommen?“, ist eine zentrale Frage in „insideout“. Denn die Entscheidung, zu tanzen, hat oftmals den Bruch mit der Tradition bedeutet und in jene „fragmentarisierten“ und „globalisierten“ Lebenswelten geführt, von denen bei dem Soziologen Stocker die Rede ist.

Dabei lässt Waltz das Publikum eine charakteristische Erfahrung der Gegenwart wiederholen: sich entscheiden zu müssen. Im Stück bedeutet das, dass Vollständigkeit nicht zu haben ist. Dass die „Intimität der Räume“ nur den partiellen Blick auf das Ganze zulässt, durch Türen und Schlitze. Und dass eine Erfahrung nur machen kann, wer nicht versucht, alles zu sehen.