Den Balkan neu erfinden

Das Eigene ist das Andere: Ein Plädoyer für den Versuch, in Südosteuropa durch eine Politik der Repräsention den Nationalismus anzugreifen und eine radikaldemokratische Kultur zu schaffen

Wer am Rand der Systeme lebt, kann eine multiple Identität entwickeln

von MARIUS BABIAS

Als vor gut 200 Jahren die westeuropäischen Nationalstaaten so etwas wie Geschichtsbewusstsein entwickelten und ihre kolonialen Interessen historisch, politisch und kulturell zu legitimieren begannen, entdeckten sie nicht nur die Antike neu, sondern reklamierten deren zivilisatorischen Kernideale ganz für sich allein. Dabei grenzten sie ganze Regionen Südosteuropas aus und schrieben deren Geschichte als unterentwickelt, barbarisch, „asiatisch“ und „orientalisch“ fest.

Diesem in den jugoslawischen Kriegen massiv reaktualisiertem Bild gilt es mit den positiven Bildern und den begrifflichen Bestimmungen der Deterritorialisierung entgegenzuwirken: Vielsprachigkeit und kulturelle Vielfalt, ethnisches Nebeneinander und religiöse Toleranz, Entgrenzung statt Begrenzung, Raum statt Linie.

Jean-Luc Nancy hat es so formuliert: „Jede Kultur ist in sich selbst ‚multikulturell‘, nicht nur weil es immer eine vorgängige Akkulturation gegeben hat und es keine einfache und reine Herkunft gibt, sondern grundlegender deshalb, weil der Gestus der Kultur selbst einer des Vermischens ist: Es gibt Wettbewerb und Vergleich, es wird umgewandelt und uminterpretiert, zerlegt und neu zusammengesetzt, kombiniert und gebastelt.“ Edward Said vertrat die These, dass die eigene Kultur als das Andere zu denken sei. Das Wesentliche des Selbst liege nicht in einer ethnischen und kulturellen Homogenität begründet, sondern in der Unreinheit, der Unschärfe und der Interferenz.

Wer am Rand der Gesellschaft und der Systeme ohne eindeutige Identität lebt, ist eher in der Lage, durch vielfältige Kulturaneignung eine multiple Identität zu entwickeln, die es ihm erlaubt, das jeweils Andere anzuerkennen und sich darauf einzulassen. Das diesem Prozess innewohnende Selbstbestimmungspotenzial kann mit der Zeit die starren Grenzen zwischen den Kulturen und Nationen sukzessive auflösen. Das ist die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht lautet: Migration, Marginalität und Borderland-Existenz können aber auch als schmückendes Ornament in ein Radical-Chic-Konzept implementiert werden, um im kapitalistischen Verwertungskreislauf neue Märkte zu erschließen, die auf dem Gefügigmachen und der Ausbeutung dieses Anderen beruhen.

Dass der Balkan nicht als Modellfall einer Grenzen und Ethnien überschreitenden Transkulturalität angesehen wird, entlarvt das falsche neoliberale Versprechen eines Weltmarktes ohne Grenzen, in dem Hautfarbe und kulturelle Identität angeblich keine Rolle spielen. Das kulturelle Deutungsmuster des Balkans als ein von der Moderne und von Europa isolierter Raum, in dem Tribalismus und Ethnonationalismus wüten, kann dann dazu führen, dass selbst das gut gemeinte Engagement für die Menschenrechte der neuen globalen Weltordnung unbeabsichtigt in die Hände spielt – wie im Kosovokrieg 1999, als die moralische Entrüstung von Menschenrechtsorganisationen und NGOs den Boden für die militärische Intervention der Nato bereitet hatte.

Die Anerkennung der Geschichte Südosteuropas als ein komplizierter Sonderfall der gesamteuropäischen Geschichte würde auch eine Revision und Neudefinition des westlichen Blicks bedeuten. Doch die Bereitschaft, „die eigene Kultur als das Andere zu denken“, ist sehr gering. Einfacher und wesentlich bequemer ist es, den Balkan weiterhin als rätselhafte, undurchdringliche, triebhafte und undomestizierte Psychogeografie am Rande der Zivilisation zu definieren, wo doch in Wirklichkeit der Balkan die verdrängte Kehr- und Schattenseite der eigenen europäischen Identität ist.

Seit einiger Zeit setzen viele kritische KünstlerInnen und AutorInnen aus den Balkanregionen dem westlichen Balkanbild eigene politische und kulturelle Definitionen entgegen. Das ist zunächst irritierend: Einem Künstler aus Frankreich oder Deutschland würde es nicht einfallen, seine künstlerische Arbeit identitätspolitisch aufzufassen. Das Gegenargument des bürgerlichen Universalismus, mit dem KünstlerInnen aus dem Osten bewertet und dann zumeist abgewertet werden, zielt auf die vorgebliche ästhetische Autonomie eines Kunstwerks ab; jedoch ist die Vorstellung einer universellen ästhetischen Sprache selbst das Produkt einer modernistischen Ideologie, die in sich brüchig geworden ist.

Identitätspolitik, und das fordern die KünstlerInnen der Ausstellung „In den Schluchten des Balkan“ ein, ist sehr wohl eine künstlerische Ressource. Einige der interessantesten Werke der letzten Jahrzehnte, ob nun im Westen oder im Osten entstanden, beschäftigen sich mit identitätspolitischen Fragen – dem Körper und dem Geschlecht innerhalb sozialer und interkultureller Parameter.

Wie könnte der Balkan neu erfunden werden? Wie können im Hinblick auf zukünftige Selbstdefinitionen neue politische Landschaften, befreite Identitäten und Handlungsperspektiven entworfen werden, die der Selbstbefreiung dienen? Eine solche Perspektive könnte im Feld der Kultur liegen, aber nur dann, wenn Kultur ein radikal anderes Verständnis erfährt, nämlich eine als Kampfplatz der Politik verstandene Kultur, die zu einer Politik der Repräsentation führt.

Politik der Repräsentation bedeutet: ein Aufbau einer radikaldemokratischen Kultur von unten, die den autoritären Staat schwächt und die Ideologie des Ethnonationalismus angreift; Politik der Repräsentation bedeutet aber auch: ein kodifiziertes Mitspracherecht im europäischen Staatenverbund und seinen Institutionen.

Indem der Balkan als Kehrseite einer verdrängten europäischen Psychogeografie verstanden wird, kann vielleicht auch eine Politik der Repräsentation in Gang kommen. Nicht von außen verordnete Politik und Kulturprogramme, sondern als Werkzeuge politischer Aneignung verstandene kulturelle Selbstdefinitionen aus den Balkanregionen könnten vielleicht neue politische Landschaften, befreite Identitäten und Handlungsperspektiven hervorbringen. Wenn das nicht gelingt, droht eine europäische Dreiklassengesellschaft, an deren unterem Ende der Balkan rangiert.

Der Autor ist gemeinsam mit Bojana Pejic Organisator des Symposiums „Die Neuerfindung des Balkans“, das vom 25. bis 26. Oktober als Teil der Ausstellung „In den Schluchten des Balkan“ in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel stattfindet. Teilnehmen werden Marina Abramovic, Sokol Beqiri, Markus Bickel, Boris Buden, Calin Dan, Melih Fereli, Sanja Ivekovic, Hito Steyerl, Vesna Kesic, Marina Grzinic, Zelimir Zilnik