„Wer helfen will, darf sich nicht vom Militär schützen lassen“, sagt Herr Lieser

Nach dem Anschlag auf das Rote Kreuz in Bagdad fragen sich viele humanitäre Organisationen, ob sie bleiben sollen

taz: Herr Lieser, was sollen die Hilfsorganisationen nach dem verheerenden Attentat auf das Internationale Rote Kreuz in Bagdad tun? Flüchten oder Standhalten?

Jürgen Lieser: Wir bleiben. Die Caritas Irak war während des Embargos in Irak tätig, so weit es ging auch während des Krieges, und sie wird dies auch weiter tun. Die Caritas Irak als nationale Organisation kann sich ja nicht selbst abziehen. Wir unterstützen die Caritas Irak mit Geld und, wenn nötig, mit Personal.

Viele Hilfsorganisationen sehen das anders und ziehen sich zurück. Ist das verständlich?

Ja, sicherlich. Die Sicherheitslage in Bagdad ist, spätestens seit dem Anschlag auf die UN, mehr als prekär. Das Problem geht aber tiefer. Es gibt die verhängnisvolle Tendenz, dass Hilfsorganisationen immer mehr zur Zielscheibe von Anschlägen werden. Früher war die Fahne etwa des Roten Kreuzes in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten ein Schutz. Heute ist das umgekehrt. Als Hilfsorganisation bleibt man möglichst unsichtbar.

Woran liegt das?

Humanitäre Hilfe ist zum Teil politischer Rechtfertigungen geworden. Wir können nicht nur von „eingebetteten Journalisten“ sprechen, sondern auch von militärisch „eingebetteter humanitärer Hilfe“. Politik und Militär versuchen immer mehr, humanitäre Hilfe zum Teil ihrer Strategien zu machen.

Und das ist neu?

In dieser direkten Art – ja. Angefangen hat dies vor gut zehn Jahren mit der US-Intervention in Somalia, fortgesetzt hat es sich im Kosovokrieg und in Afghanistan und Irak. Wenn Kriege mit Menschenrechten und humanitären Anliegen legitimiert werden, ist es kein allzu großes Wunder, dass westliche humanitäre Organisationen als Teil des Feindes betrachtet werden – und nicht mehr als neutral.

US-Außenminister Colin Powell hat gestern die Hilfsorganisationen aufgefordert, in Bagdad zu bleiben. Meinen Sie das mit politischer Instrumentalisierung?

Ja, das geht in diese Richtung. Das drastischste Beispiel für die Verwischung von Militär- und Hilfsaktion war der Abwurf von Lebensmittelpaketen aus US-Militärflugzeugen, die Care-Pakete statt Bomben abgeworfen haben.

Gibt es Vergleichbares in Irak?

Nicht so krass, aber es gibt eine strukturelle Abhängigkeit der Hilfe von den USA und den Briten in Irak. Wir, die deutschen Hilfsorganisationen, beharren sehr entschieden auf unserer Unabhängigkeit. Aber natürlich ist es so, dass wir unsere Arbeit von den USA genehmigen lassen müssen. So ist es eben. Wir können ja nicht sagen: Weil das so ist, weil wir nicht mit den USA identifiziert werden wollen, helfen wir im Irak nicht mehr.

Finden Sie, dass es in Ordnung ist, wenn Hilfsorganisationen nun nach dem Anschlag auf das Rote Kreuz militärischen Schutz akzeptieren?

Das ist hoch ambivalent. Wer nur noch mit Militärbegleitung helfen kann, der kann eigentlich kaum helfen. Wir, die Organisationen, haben darauf ja auch im Zusammenhang mit dem Bundeswehreinsatz in Kundus hingewiesen, der ja dort die humanitäre Hilfe schützen soll. Wir fühlen uns aber nicht besser geschützt.

Warum?

Weil militärisch „eingebettete“ Hilfe Gefahr läuft, nicht mehr vom Militär unterscheidbar zu sein. Damit wird jede neutrale Hilfsorganisation unglaubwürdig – gewissermaßen angreifbar im doppelten Sinn des Wortes. Langfristig ist der einzige brauchbare Schutz für Hilfsorgansationen das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Arbeit.

Aber wenn Hilfsorganisationen nun militärischen Schutz ablehnen, sind sie für die Terroristen ein „weiches Ziel“.

Ja. Wir sind aus der Sicht der Politik und des Militärs „soft instruments“ – und aus Sicht der Gegenseite „soft targets“. Das ist nicht zu ändern.

Der Anschlag in Bagdad traf mit dem Roten Kreuz gerade eine Organisation, die strikt auf ihre Neutralität bedacht ist. „Unabhängig oder nicht – es macht keinen Unterschied“, das ist die Botschaft des Anschlags. Was bedeutet das für die unabhängigen Hilfsorganisationen?

Ich glaube nicht, dass die Lage sich für uns fundamental verändert hat. Um glaubwürdig und unabhängig zu bleiben, dürfen wir uns nicht vor den Karren irgendeiner politischen oder militärischen Strategie spannen lassen. Das gilt noch immer.

Das Dilemma ist offenkundig: Wenn die Hilfsorganisationen jetzt gehen, ist das politisch ein fatales Zeichen – denn die Terroristen wollen eine freie Bühne für den Kampf gegen die Besatzer. Wenn sie in Bagdad bleiben, gefährden sie ihre Mitarbeiter. Wissen Sie einen Ausweg?

Nein. Wir stehen immer zwischen den Fronten.Wenn man sich vor jeder politischen Instrumentalisierung schützen will, muss man gleich zu Hause bleiben. Die entscheidende Frage für uns ist immer die gleiche: Können wir noch helfen – oder nicht? Das ist die Richtschnur – nicht die politischen Absichten der Konfliktparteien.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE