Diskrete Verachtung

In seinen Essays blickt V. S. Naipaul ironisch, doch bewundernd auf Amerika und lernt „Lektionen einer neuen Welt“

von RENÉE ZUCKER

Diejenigen, die neue Essays vom Altmeister der differenzierten Länderbegehung erwartet haben, seien vor Enttäuschung gewarnt: Es handelt sich bei diesem Buch um eine Sammlung älterer Texte. Und es ist mehr als ärgerlich, dass der Verlag den irreführenden, in diesen Zeiten aber gut verkäuflichen Titel „Amerika. Lektionen einer neuen Welt“ wählte. In den USA heißt das Buch „The Writer and the World“ – und genau das ist es: Naipaul schreibt über die Welt und das Schreiben, über Schriftsteller und ihre Orte.

Doch selbst wenn die Essays nichts zur aktuellen Lage vermitteln, Naipaul zu lesen ist nie vertane Zeit. Der westindische Autor ist zwar ausgesprochen westlich im Denken, aber viel zu explizit und bewusst Europäer geworden, um dem American Way of Life naiv gegenüberzustehen. In seinem Artikel über Norman Mailers Kandidatur für das Gouverneursamt beschreibt er, wie dessen Wahlhelfer vor Begeisterung toben, als er 10 Prozent der Stimmen holt: „Sie waren rebellisch, und es herrschte Hochstimmung. Aber zugleich waren sie Amerikaner und daher behutsam, niemals rücksichtslos im Umgang mit der eigenen Person. Sie mäßigten sich.“ Diskreter kann man einer gewissen Verachtung keinen Ausdruck verleihen.

Naipaul schreibt über Amerika und die Amerikaner mit jener typisch europäischen Mischung aus Bewunderung für den Pragmatismus und kopfschüttelndem Hochmut über eine gewisse infantile Gewöhnlichkeit – vor allem in den zwei ersten Geschichten über Mailer und das aus John Steinbecks „Straße der Ölsardinen“ bekannte Monterey.

Seine Bewunderung bleibt immer für den Sieg, selbst wenn er auf falschen Voraussetzungen beruht und so Steinbeck in einen falschen Mythos integriert: „Wo Monterey beginnt, endet Amerika. Auf der Halbinsel ist alles Märchenland. Ins Märchenland eingelassen werden: Für Steinbeck, den Romancier des sozialen Gewissens, den zornigen Mann der Dreißigerjahre, der für die Gewerkschaften warb, den Mann, der nur Hohn und Spott für die Fähigkeit dieser Halbinsel zur Mythenbildung übrig hatte, ist das ein seltsames Los.“ Den amerikanischen Schriftstellerkollegen gegenüber wahrt Naipaul Respekt für ihre Arbeit und noch mehr Achtung, wenn sie eine gewisse Skepsis gegenüber dem amerikanischen Erfolgsrezept äußern.

Wunderbar ist die Reportage über einen Parteitag der Republikaner im Dallas der Achtziger-Ronald-Regan-Jahre. Naipaul lässt sich spürbar von der Leichtigkeit und Siegerlaune anstecken und propft seinen Text mit sinnlosen Informationen voll. Offenkundig beeindruckt ist er von Effizienz und Entertainmentbewusstsein, von Marketing-Strategien und Aufbruchs-Optimismus der Siebzigerjahre.

„Am Samstag vor der Eröffnung des Parteitages erschien niemand Geringeres als Carol Morrows, stellvertretende Direktorin von Morrows Nut House, am Presseeingang, einen Einkaufswagen mit der Shuttle-Mischung vor sich herschiebend. Es war unglaublich: ein so beiläufiges Zusammentreffen mit einer so großen Dame. Es war, als stünde man urplötzlich vor dem Besitzer von Dunkin’ Donuts, der Probierpäckchen mit seinen Krapfen anbietet.“ Ja, so war das, bevor Bill Gates bei Christansen rumsaß oder über Großleinwand zu Kleinaktionären sprach.

Da dieses Buch eben nicht nur mit dem US-amerikanischen Teil des Kontinents zu tun hat, erweist Naipaul in einem langen Essay über Argentinien auch Jorge Luis Borges ein bisschen die Ehre. Naipaul schreibt recht nüchtern über ihn, der als einer der schwierigsten und mysteriösesten Schriftsteller gilt: „Seine Themen sind sich während des letzten halben Jahrhunderts gleich geblieben: Es geht um seine soldatischen Vorfahren, ihren Tod in der Schlacht, den Tod als solchen, die Zeit und das alte Buenos Aires.“ Nun, Naipaul hatte schon erleuchtetere Momente, wenn er über Menschen schrieb. Er ist hier ein wenig zu stolz darauf, die Trickkiste des Meisters geöffnet zu haben, wenn er über dessen intellektuelle Spielereien milde spottet.

Eine wunderbare Geschichte allerdings zitiert er von Borges, dessen uralte Mutter in tiefster Nacht angerufen und bedroht wurde: „ ‚Ich muss Sie und Ihren Sohn umbringen.‘ ‚Warum?‘, fragte sie. ‚Weil ich Peronista bin‘, sagte der Anrufer.‘ ‚Was meinen Sohn betrifft‘, sagte meine Mutter, ‚so ist er über 70 und praktisch blind. Aber was mich angeht, rate ich Ihnen, keine Zeit zu verlieren, denn ich bin 95 und sterbe Ihnen vielleicht unter den Händen weg, ehe Sie mich noch haben umbringen können.‘ “ Wohl und wehe dem, der solch eine Mutter hat.

Alles in allem – trotz der etikettenschwindlerischen Einwände – lohnen Naipauls Essays der Lektüre, wenngleich eine Taschenbuchausgabe ausgereicht hätte.

V. S. Naipaul: „Amerika. Lektionen einer neuen Welt“. Aus dem Englischen von Monika Noll und Ulrich Enderwitz. Claassen, München 2003, 316 Seiten, 22 Euro