Da – ein Vogel! Schau einer an!

Von Inka Parei lernen heißt schreiben lernen – alle Probleme sind gleich gelöst, wenn man nur der Bachmann-Preisträgerin folgt

Ich war blöd! Lange Jahre war ich derart megascheißefickenblöde gewesen, dass es blöder einfach nicht mehr gegangen wäre, und ich hatte es nicht einmal gemerkt. Wie hätte ich denn auch sollen – bei meiner Blödheit.

Es ist nämlich folgendermaßen: Seit Jahren fahre ich Taxi. Die Fahrgäste, soweit sie nicht gerade versuchten, einen umzulegen, waren manchmal ganz nett. Wieder andere waren derart dumm oder gemein, dass sie mir ein ungläubiges Schmunzeln entlockten und mir auf diesem Wege die Arbeit versüßten. Die Kunden versorgten mich mit Gesprächen, mit Themen, mit Weisheiten oder Beweisen für den Untergang des Abendlandes. Viele gaben mir auch von ihrem Geld. Heute ist das alles weg, verschwunden zusammen mit den Fahrgästen – geblieben ist bloß stundenlanges, zermürbendes Warten und damit entmenschlichte, langweilige Lohnarbeit ohne Sinn und Ziel. Viel lieber würde ich zu Hause sitzen und einfach nur schreiben.

Genauso macht das Inka Parei, Gewinnerin des diesjährigen Bachmann-Wettbewerbs: „Es gibt ja Leute, die machen das nebenher, die haben eigentlich einen ganz anderen Beruf, aber das könnte ich nicht“, sagt sie im taz-Interview, „ich muss alles andere wegschieben und mich direkt damit konfrontieren.“

Beim Lesen dieser klugen Worte fiel es mir wie Schuppen von den Augen: JAA! Dass ich da nicht früher draufgekommen bin! Ich schreibe einfach nur noch und schieb die ganze andere Scheiße, die mich nervt, weit weg. Ich säe nicht, ich ernte nicht, und der Herr zahlt doch meine Miete. Affengeile Idee – danke, Inka! Das erzähl ich gleich den Kollegen, die sich als Werbetexter, Informatiker oder Stricher durchs Leben schlagen – das wird sie freuen. Bestimmt zahlt der Herr auch ihre Miete.

Alle Probleme mit einem Schlag gelöst und noch Zeit für mein vernachlässigtes Lieblingshobby gewonnen, dem stundenlangen Aus-dem-Fenster-Lehnen, mittags, scheinbar ziellos und doch mit hellwachem Geist – irgendwoher müssen ja die Anregungen kommen, wenn ich nicht mehr Taxi fahre. Mich mit dem Leben da draußen und auf diesem Weg zugleich mit dem Schreiben bewusst konfrontieren, die Ellbogen bequem auf dem Fensterbrett und die kleinste Veränderung sofort wahrnehmend: Da – ein Vogel! Der war doch vorhin noch auf der anderen Seite. Ist volle Kanne hier rüber geflogen – schau einer an! Diese Vögel haben es echt faustdick hinter den Ohren, verschlagene kleine Schlaumeier.

Still ist es im Hof – die Mittagshitze drückt mit schwerer Hand die Luft zwischen die Häuser und hält sie dort erbarmungslos im Würgegriff gefangen. Die Luft keucht. Keine so richtige Veränderung im eigentlichen Sinne, aber dort unten: Die Brennnessel neben dem Fahrradständer – hat die sich nicht soeben sacht im Wind geschaukelt?

Ich setze mich an den Rechner und betrachte meine Fingernägel, in denen sich der Dreck der Jahrzehnte eingelagert hat. Dann beschreibe ich zehn Seiten lang die Brennnessel: „Die Brennnessel stand auf einer Grasfläche, die wie für sie geschaffen schien. Alles deutete darauf hin, dass sie schon vor Monaten von diesem auf eine schlichte Art irdisch wirkenden Ort Besitz ergriffen hatte: Ihre Größe, der dunkle samtige Ton ihres Grüns, die ausgeprägten Linien ihrer Blätter, die Tauen nicht unähnlich, wie man sie auf einem großen Segelschiff hat, deren es ja heutzutage leider nur noch allzu wenige gibt, schöne Schwäne der Weltmeere …“

Ich werde unterbrochen. Irgendwas schreit draußen wie am Spieß in einer fremden Sprache. Eine Minute, fünf Minuten, zehn Minuten. Ein langes schreckliches Sterben oder sachkundig durchgeführte Folter? Als das Ding nach einer Viertelstunde immer noch brüllt, nehme ich meinen Platz am Fenster wieder ein. Eine Taube fliegt knapp vorbei – Inka Parei wäre sie jetzt wahrscheinlich in den Mund geflogen. Im Hof des Nachbarhauses steht eine junge Frau mit Kinderwagen und ruft in ein offenes Fenster im Erdgeschoss hinein, ihr Kind wache bei dem Geschrei jedesmal auf.

Das Gebrüll ebbt ab und ein älterer, unter Berücksichtigung der Vorgeschichte überraschend unversehrter Mann erscheint im Fenster. Ein Streit beginnt. Er telefoniere nur, rechtfertigt sich der Mann, der das Telefonnetz für eine Art Röhrensystem zu halten scheint, durch das man bis nach Ankara schon recht kräftig rufen muss. Sie solle doch zu ihm rein kommen, schlägt er schmierig vor, da könne sie was trinken. Brüsk lehnt sie ab und verzieht sich.

Kein Taxi, denke ich, nur Schreiben. Keine Zeitverschwendung mehr und kein Frust. Wie einfach das alles ist, Inka, Inkeczka, geniale Düsentriebin der Lebenslogistik, mit was für einem grandiosen Käse hab ich mir grundlos das Leben versaut! „Aber das könnte ich nicht“ – ich kann’s auch nicht und mach’s auch nicht mehr. Wenn ich pleite bin, leihe ich mir was vom Papst. Dann schreib ich meinen geilen Brennnesseltext fertig, und beim nächsten Bachblütenfest räume ich damit selber ordentlich ab.

ULI HANNEMANN