Wenn das Vergessen „ich“ sagt

Die ganze Tragikomik familiärer Perversitäten: Barbara Gowdy wirkte stilbildend für Autoren wie Jonathan Franzen. In dem Roman „Die Romantiker“ erzählt sie vom Fanal des Erwachsenwerdens

Tapfer versuchen die Töchter, jede auf ihre Art, das Familienloszu ertragenEs hilft nichts: Liebe ist grausam.Wer wem gut tut,ist ihr schnuppe

von JOCHEN FÖRSTER

Wenn es so was gibt wie die typische Schriftstellerbiografie, einer ihrer Grundzüge wäre wohl die Entwicklung zu mehr Gelassenheit. Schwarzen Humor, Selbstironie, einen Hang zum Skurrilen sowie eine heitere Distanz gegenüber den Dingen lernt ein empfindsamer Mensch nun mal erst mit den Jahren. Bei Goethe war das so und bei Heinrich Heine, bei Flaubert und bei Cees Noteboom, man kann es in Thomas Manns unvollendetem „Felix Krull“ nachlesen oder in Charles Dickens’ „Great Expectations“. Wer sich mit 18 nicht ernst nimmt, ist ein Arschloch, heißt es. Wer sich mit 50 noch ernst nimmt, ein Idiot.

Die Kanadierin Barbara Gowdy war diesbezüglich früh auf dem Weg – zumindest am späten Start ihrer Karriere bemessen. Und von ihrem Romanerstling abgesehen. 37 Jahre war Gowdy, als er erschien, ein Historienschinken namens „Through the green valley“, nicht gerade ein Erfolg, nie ins Deutsche übersetzt und der Autorin heute noch peinlich. „Ich dachte, wenn ich die besten historisch verbürgten Geschichten versammle, kann ich nichts falsch machen“, sagt Barbara Gowdy. „Ich wusste nicht, was ich wollte.“

Ein Jahr später wusste sie es. Die Kurzgeschichten in „We seldom look on love“ („Seltsam wie die Liebe“), ihrem nach eigenen Angaben „ersten richtigen Buch“, handelten von einer Frau mit zwei Scheiden und vier Beinen, von siamesischen Zwillingen, deren Köpfe aus Schulter oder Bein wachsen, oder, jawohl, von der Fellationierung einer Leiche. Ihren zweiten Roman „Fallende Engel“, wieder ein Jahr später, begann Gowdy mit einer Szene im Leichenschauhaus: Drei Mädels im Teenageralter stehen am Sarg ihrer Mutter und spekulieren, ob man Mami wohl die Beine abgeschnitten habe – so kurz wie der Sarg sei. „Mister Sandman“, ihr dritter Roman, erzählte von einem transsexuellen Ehemann mit einer Tochter, die winzig ist, stumm, im Kleiderschrank wohnt und von seiner eigenen Tochter geboren wurde.

Nun war der Fokus in dieser Frühphase keineswegs nur heiter. Die erzählerische Lust an den Seltsamkeiten des Provinzlebens, am Abnormen hinterm Gartenzaun, an der Normalität als Schutzhülle war jedoch durchgängig und wirkte stilbildend. Zumal in „Fallende Engel“ – Vorbild für Filme wie „Virgin Suicides“ oder „Heavenly Creatures“ bis zu Jonathan Franzens Familienroman „Die Korrekturen“, einer Art „Fallende Engel“ für Thomas-Mann-Fans. Gowdys Roman enthielt bereits die ganze Tragikomik familiärer Perversitäten – nur dichter, ohne lange Rückblicke auf hoher See.

Der Vater der drei Schwestern Lou, Norma und Sandy ist ein Albert Lambert (der Großvater aus den „Korrekturen“) zum Quadrat, die Mutter säuft und geht nur Weihnachten aus dem Haus. Eines Tages, wir sind früh in den Sechzigern und die Russen stehen vor der Tür, baut Dad einen Atomschutzbunker in den kanadischen Reihenhausgarten und probt den Ernstfall für sich und die Seinen. Zwei Wochen lang. Auf 20 Seiten erzählt Gowdy, wie der „Pfundstrupp“ (so nennt Dad die Familie) unter Tage ausharrt, die Töchter irgendwann heimlich an Mamas Whiskybecher nippen und stolz sind, „die einzigen Bewohner im Stadtteil zu sein, denen nichts passieren konnte“. Diese Szene hat alles, was den Roman so grandios macht: den kuriosen Humor, die liebevolle Vorführung des Verschrobenen und nicht zuletzt die rührende Geschichte jener drei Töchter, die, jede auf ihre Art, tapfer ihr Familienlos tragen. Am kuriosesten an „Fallende Engel“ bleibt die Tatsache, dass dieses Buch kein Welterfolg wurde.

Dass der ihr ausgerechnet mit „Der weiße Knochen“ gelang, führt Barbara Gowdy selbst auf die eher ungewöhnliche Grundidee zurück: Der Roman ist aus Sicht einer Elefantenfamilie in den Savannen Ostafrikas erzählt – und das, ohne je peinlich zu werden, trotz eigens erfundenem „Elephant Speak“ mit so semiwitzigen Wortkreationen wie „Zuckstock“ (für Schlange), „Schmausbaum“ (für Schirmakazie) oder „Hinterbeiner“ (für Mensch). Dessen ungeachtet, ist der Sinn fürs Skurrile klar auf dem Rückzug. Es geht ums Grundsätzliche. „Der weiße Knochen“ ist ein grundmoralischer Beitrag zum Stand menschlicher Kleingeistigkeit und Zerstörungswut aus Sicht telepathisch veranlagter Dickhäuter. Die behinderte Elefantenkuh „Matsch“ will ihre Art vor der Abschlachtung bewahren, indem sie einen heiligen Knochen findet, der, in die Luft geworfen, bei der Landung die Richtung des Ortes angeben soll, an dem sie vor Menschen sicher sind. Am Ende des Romans steht eine Geburt, und die Matriarchin predigt das Elefanten-Credo: „Was geschehen ist, ist geschehen.“

Mit „Der weiße Knochen“ wurde unverkennbar, dass sich Gowdys Romane vom Jahrmarkt der Monstrositäten erkennbar hin zu den elementaren Dingen des Seins bewegen. Je älter Gowdy wird, umso moralischer, ernsthafter, altmodischer scheint sie zu schreiben.

Barbara Gowdy 2003 ist ein Mädchen von 53 Jahren. Ihren Pony trägt sie wie zu Highschool-Zeiten, ihre Kleidung erinnert entfernt an jene Phase irgendwann in den Achtzigern, als dunkelblaue Jacketts mit Uni-Emblem unter Gymnasiastinnen angesagt waren, und wenn man sich die winzigen Fältchen auf ihrem Marmorgesicht wegdenkt, könnte sie fast als höhere Tochter mit College-Zukunft und reichlich zügelloser Fantasie durchgehen, als eine Art Laura Palmer von Toronto, der Stadt, in deren Einzugsgebiet Barbara Gowdy von Geburt an lebt.

Zwischen der Highschool, dem abgebrochenen Theater- und absolvierten Klavierstudium, dem Job als Verlagslektorin und der Jetztzeit liegen bei Barbara Gowdy zwei geschiedene Ehen, um die drei Dutzend Umzüge, fünf große Lieben, darunter eine glückliche seit 15 Jahren, sowie die Entwicklung zur Wesentlichkeit. „Ich nehme mich als Autorin ernster als früher“, sagt Gowdy beim Besuch in Berlin. „Daraus folgt, dass ich die Ziele höher stecke. Die Fragen, die ich mir heute stelle, sind grundsätzlicher als vor zehn Jahren. Was ist menschlich? Wozu leben wir? Warum zerstören wir uns selbst?“

Ihre Antworten sind nicht allzu ausgefallen. Barbara Gowdy liebt alle Tiere, hasst Kriege, Umweltzerstörung und Bärenjagd, Dummheit, Vorurteile sowie den „steigenden Konformismus in der Welt“. Und sie sagt Sätze, für die manch deutscher Eliteverlag seine Autorin flugs in die Hera-Lind-Liga strafversetzen würde: „Ich bin für das Gute“ zum Beispiel. Oder: „Ich bin immer auf der Seite der Liebe.“

Das Gute an Barbara Gowdys neuem Roman ist, dass die Autorin bei aller Grundsätzlichkeit ihr größtes Talent hegt: die Fähigkeit, Geschichten, Stimmungen, Situationen in ein paar Sätzen zu skizzieren, als wäre man mittenmang, kurz: die Übersetzung eines Anliegens in Literatur. „Die Romantiker“, ihr aktuelles Buch (Verlag Antje Kunstmann), ist zweifellos der stofflich am wenigsten schrille unter Gowdys Romanen, der klassischste und der bei weitem traurigste. Anderen gereicht solche Abwendung von anfänglichen Kardinaltugenden zum Karriereende, bei Gowdy ist der Drang zur Ernsthaftigkeit ein Schritt nach vorn. Das Erzählerische erhält nun, von keinerlei Frauen mit zwei Scheiden und vier Beinen umwölbt, vollen Raum.

Und das Erzählerische, mehr noch als sonst bei Gowdy, springt wild in den Zeiten. Louise Kirk berichtet von ihrer Liebe. Sie ist Ende 20, drei Jahre nach Abels Tod, im Jahr 1979, in einem Vorort von Toronto. Sie beginnt: „Die Vergangenheit ist erst beständig, wenn sie tot ist.“ Schnitt.

20 Jahre zuvor ist Louises Mutter mit dem Gärtner durchgebrannt, so zumindest sieht es ihr Vater, ein „netter Verlierer“, wie ihre Mutter ihn einmal taufte. 19 Jahre zuvor hat sich Vater mit Mrs. Carver getröstet, die kaum Stimmbänder hat, aber super putzen kann. Und in ihrer Nachbarschaft bezieht ein Waisenjunge ein Haus. Abel ist der Kumpan ihrer ersten Abenteuer. Einen Sommer lang zieht Louise morgens um neun mit ihm in Richtung Fledermaushöhle, man baut Verstecke und denkt konspirativ. Mit 13 zieht Abel nach Vancouver. Mit 17 treffen sich die beiden auf einer Party wieder und zeugen am Pool unter leichten Drogen ein Kind. Abel geht zurück nach Vancouver, ein paar Wochen lang telefonieren sie innig und zitieren Rimbaud-Gedichte, dann zieht sich Abel zurück und Louise treibt das Baby aus Rache ab. Schnitt. Neun Jahre später säuft sich Abel zu Tode.

Dazwischen liegen Jahre, deren Beschreibung man aus „Fallende Engel“ & Co. kennt: die krude Familie, das Los der Provinz, halbgare Rebellionsversuche. Doch das bleibt diesmal am Rande. Gowdy treibt ein allgemeineres Anliegen um: das Schicksal der unbedingt Wollenden, der fixen Idee im Herzen, die man gemeinhin romantische Liebe nennt. In den Jahren nach ihrer Abtreibung versucht Louise diese Bestimmung zu betäuben. Sie jobbt in einer Maklerfirma, hat wenig zu tun und übt sich, im besten Alter, in der Strategie des Selbst-Einschläferns. „Wenn die Teekanne leer ist, ziehe ich den Stuhl wieder an den Schreibtisch und verbringe ungefähr eine Stunde damit, meine Bürokleidung zu ändern. Dann bügele ich das, was ich am nächsten Tag anziehen will. Um halb zehn ziehe ich meinen Schlafanzug an, ziehe das Bett aus der Wand und lege mich hin, um Jane Austen zu lesen. Gegen halb elf schlafe ich ein. Die Samstagabende sind nicht so einfach.“ Das sind so Passagen, die in all ihrer Beiläufigkeit zum Ergreifendsten gehören, was Barbara Gowdy geschrieben hat.

Natürlich funktioniert das nicht auf Dauer. Louise lernt Troy kennen, der einen Plattenladen hat, gut zu ihr ist und ihr gut tut. Aber es hilft nichts. Liebe ist grausam, und wer wem gut tut, ist ihr schnuppe. Also kommt es, wie es kommen muss. Nach vier Jahren mit Troy trifft Louise Abel, sie lieben sich auf dem Fußboden und Louise sagt: „Ich liebe dich, Abel.“ Auch das kann natürlich nicht gut gehen, ist aber auch Teil des Spiels. Echte Romantik vollendet sich in der Unerfüllbarkeit.

Barbara Gowdy sagt, wenn sie ein Buch schreibe, lese sie am liebsten Tolstoi – der Reinheit seiner Sprache wegen. Man merkt das allenthalben. In „Die Romantiker“ erweist sich Gowdy, 53-jährig, erzählerisch als Grande Dame, ideologisch als Highschool-Mädchen. Dass dies beim Lesen nie stört, liegt wohl daran, dass Gowdy nie schreibt, wie sie im Interview redet. Alles geht auf in Literatur, alle Lebensweisheit bleibt zwischen den Zeilen. Und wenn schon, finden sich in den karg gesäten Reflexionen dieses rundum klassischen Romans vom Fanal des Erwachsenwerdens Sätze wie diese: „Das Leben ist Vergessen, das für einen kurzen Augenblick in Nicht-Vergessen ausbricht, damit das Vergessen sagen kann: ‚Ich bin‘.“