theorie und technik
: Was Politik muss: den Staat erblicken

Keiner ging so weit wie er. Er gab den Jurastudenten im versifften Big-Brother-Container, er ließ sich als Thomas-Mann-Double im cremefarbenen Anzug in Venedig fotografieren, er war der Papstkritiker in der Nachfolge Luthers. Erst neulich lud Guido Westerwelle die Linsenfresser von der Bunten nach Barcelona, um denen einmal zu zeigen, wie Freiheit schmeckt. Betont gelassen diktierte er in die Schreibblöcke: „Ich habe hier sogar schon in der Disko getanzt. Hoffentlich hatte niemand so ein Handy mit eingebauter Kamera dabei …“

Der Mann beherrscht die kontrollierte Inszenierung, welche die politische Bühne erfordert. Es geht ihm gut dabei, denn er verfügt ja über „einen festen inneren Kompass“. Nur blöd, dass den nicht alle dufte finden. Als er am Wochenende zum medienwirksamen Strategietreffen lud, verblieb nicht nur die dort ausgerufene „faire Gesellschaft“ in angemessener Äquidistanz zu ihrem pfiffigen Erfinder. Die Königsmörder in seiner eigenen Partei wetzen schon die Messer, weil sie vom gefühligen Kurs ihres Chefs genug gaben und endlich eine Dividende für ihre knallharten Wirtschaftsthemen einfahren wollen. Die kecken Betrachtungen eines Unpolitischen stören da nur.

In seinem Spagat zwischen putzmunterer Emotionalität und kalter Rationalität ist Westerwelle ein äußerst interessanter Vertreter der politischen Klasse. Denn anhand seiner individuellen Passionsgeschichte lässt sich gut zeigen, warum ein Verständnis von Politik, das allein nüchternes Verwaltungshandeln umfasst, eindeutig zu kurz greift. Auch sozialpsychologische Komponenten wie das Schwanken zwischen Autonomie und Fremdbestimmung, Wunsch und Enttäuschung, Wille und Ohnmacht, gehören dazu.

Die politische Wissenschaft, der man gerne eine gewisse Expertise in diesen Dingen zugestehen würde, bevorzugt leider den naturwissenschaftlichen Blick auf Politik. Sie übersetzt Abstimmungsergebnisse in Graphen, bildet Korrelationen zwischen Einflussgrößen und vergleicht institutionelle Outputs. Für Ernst Vollrath, Fremdgänger in der eigenen Zunft, ist dieses szientistische Verständnis irreführend, sogar armselig, weil es sich selbst um die emphatischen Momente des Politischen betrüge. In enger Anlehnung an seine philosophische Lehrmeisterin Hannah Arendt skizziert er in seinem Buch „Was ist das Politische?“ deshalb eine kulturvergleichende Theorie des Politischen, welche sich vom demoskopischen Ehrgeiz, Einschätzungen über Bonusmeilen oder Reförmchen einzuholen, deutlich abhebt.

Als verheerend begreift Vollrath die in Deutschland vorherrschende Identifikation des Politischen mit dem Staat „an sich“ sowie die beiden damit verbundenen Wahrnehmungstypen: einmal die kritische Wahrnehmung in einer „idealpolitischen“, das heißt reflexionsmoralischen Linie von Kant bis Habermas, zum anderen die affirmative Wahrnehmung in einer „realpolitischen“, das heißt staatsrechtlichen Linie von Samuel Pufendorf bis Carl Schmidt. Zwischen diesen beiden extremen Polen habe sich kein drittes, „zivilpolitisches“ Paradigma ausbilden können, das heißt eine Vorstellung von freiem bürgerschaftlichen Handeln.

Man müsse deshalb, so Vollrath, endlich den amerikanischen Grundsatz all governments rest on opinion ernster nehmen. Damit ist nicht das kurzatmige Buhlen um Zustimmung gemeint, sondern die Einsicht, dass sich das Politische letztlich auf Kontingenz gründet, das heißt: auf die stets unvorhersehbare Pluralität der Meinungen. Nur die reflektierende Urteilskraft innerhalb dieser „differenziellen Gemeinsamkeit“ wäre in Vollraths Sinne authentische, sozusagen Politik-Politik. Insofern „handelt sich gar nicht darum, den Staat abzuschaffen, sondern ihn in seiner politischen Modalität und Qualität […] zu erblicken“.

Für die FDP gilt dieser Ordnungsruf umso mehr, als sie sich jahrzehntelang als einzige anti-etatistische Partei schadlos hielt. Nun da sich in Spree-Athen alle Parteien eilig zu einem Ethos der Erneuerung bekennen, das der antiken Polis zur Ehre gereichen würde, ist Hannah Arendt als liberale Säulenheilige gewissermaßen verbrannt. Cornelia Piper versucht sich im Hanfanbau, Wolfgang Kubicki stolziert mit tief sitzenden Baggy Pants herum, und Guido Westerwelle nagt nervös an seinen Fingerkuppen. „Politik heißt Anfangenkönnen“, heißt es bei Hannah Arendt. Dass Politik auch die Fähigkeit erfordert, im rechten Augenblick Schluss zu machen, beweisen uns die possierlichen political animals von der FDP jeden Tag aufs Neue. JAN ENGELMANN

Ernst Vollrath: „Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung“. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, 221 Seiten, 24,80 €