Spielplatz mit Millionenpublikum

Dino weiß nicht, dass der Musikkonzern nicht gerade glücklich ist über einen Sieger vom Balkan

aus Kopenhagen JAN FEDDERSEN

Dino lächelt nicht einmal. Elf Jahre ist er jung. Gerade hat er den ersten Kinder-Grand-Prix gewonnen, neun Punkte Vorsprung hatte er für sein Lied „Ti si moja prva ljubav“ („Du bist mein ein und alles“) am Samstag kurz vor zehn Uhr abends vor dem ein Jahr älteren Sergio aus Spanien; der freute sich riesig, mit seinem Gebet für seine vor zwei Jahren verstorbene Mutter. Beim Sieger aus Kroatien sieht das aus, als habe der in der Sekunde der letzten Punktewertung aus Holland eine schreckliche Nachricht erhalten. „Ich bin sehr, sehr glücklich“, sagt er den Journalisten später, aber sein Gesicht deutet an, dass da einer ziemlich ruhebedürftig ist.

Das kann man vom britischen Sänger Tom Morley nicht sagen. Eher still vom Gemüt, aber als Dritter der Konkurrenz doch sehr zufrieden: „My Song For The World“ hat er gesungen, ohne jedes Rap- oder HipHop-Geturne im Background, allein vor dem Mikro, 8.000 Zuschauer im Kopenhagener Forum vor sich und im Bewusstsein, es vor den Fernsehern mit etwa 100 Millionen Juroren zu tun zu haben. Er machte seine Sache ebenso fein wie die meisten, aber Tom Morley wirkt nach dem Ende der Konkurrenz so wach wie immer. „Na ja, manchmal ist mir alles ein bisschen zu viel, die Schule, die Proben, das Singen.“ Dann kriegt er Kopfschmerzen, sagt er, „aber die gehen schnell wieder weg“.

Tom Morley hat vermutlich seiner Familie, Mutter Tina, 38, Vater Jack, 40, und seinen Geschwistern Jack, 17, Jim, 12, und Demmy, 7, mehr Nerven bereitet als sich selbst. Vater Jack ist erst zwei Tage zuvor von Cumbria im nordwestlichen England nach Kopenhagen angereist – die Auftragslage als Malermeister ließ eine frühere Reise nicht zu. Am Nachmittag zuvor hat er seinen Sohn eine halbe Stunde auf einen Spaziergang mitgenommen, die Meerjungfrau angucken. „Ich habe ihm gesagt, was zählt, ist, dass du dich wohlfühlst. Mach es nur für dich.“ Und er solle sich nicht ärgern, wenn es mit den Punkten nicht so klappt. Die Weltlage im Blick hat er ihm gesagt: „Tom, ich muss dir sagen, es könnte nachher politisch werden.“ So von wegen Irak und Krieg. Gut, dass Toms Song, wie alle beim Kinder-Grand-Prix von den Interpreten selbst geschrieben, von den Menschen handelt, die durch Krieg in Mitleidenschaft gezogen werden. Tom schwor seinem Vater: „Ich tue mein Bestes. Für uns.“ Jack Morley senior war zufrieden: „Wir vertrauen ihm. Er wird es so machen, dass es ihn nicht krank macht.“

Hat es nicht. Tom und seine Familie fallen sich am Bühnenausgang in die Arme, hier und da ein kleines Tränchen vor Stolz. Ihr Held aber sagt: „Es war total okay.“ Woraufhin ihm Bruder Jack junior brüderlich in den Oberarm knufft und etwas von „perfect job“ sagt.

Anderswo müssen ganz andere Wogen geglättet werden. Die Delegation vom kroatischen Fernsehen hat nun, da ihr Vertreter als Sieger feststeht, einen Nervfaktor vom Hals: Des Siegers Vater, Dario Jelusic, verkörpert allen Schrecken, den Eltern verbreiten können, wenn sie ihre Kinder ungerecht behandelt fühlen. Und das hat der Kroate in der Woche des Junior Eurovision Song Contest oft empfunden: Das Licht sei zu fahl und die Bühne seines Sprosses, in Zagreb immerhin ein Star wie in Deutschland einst Heintje, nicht würdig, außerdem sei sein Sohn der Einzige, der überhaupt singen könne … Alles in allem also Gefühlsaufwallungen, wie sie aus jedem Fußball- oder Turnverein bekannt sind: Eltern als Raubtiere, die ihre Kinder in Stellung bringen. Die Organisatoren vom dänischen Fernsehen wussten um diese Spezies. Was ihnen möglich war zu tun, um die Kinder von jener Nervosität abzuschirmen, haben sie getan. Haben Besuchsprogramme vorbereitet, zur Meerjungfrau, ins Planetarium und in den Zoo. Haben Psychologen und Sozialpädagogen eingestellt, auf dass den Kindern jedes Gefühl von Überforderung genommen werde.

Aber sie mussten kaum arbeiten, denn die Wahrheit war und ist ja, dass die 16 Teilnehmer, die, um teilnehmen zu dürfen, mindestens 8 und höchstens 15 Jahre sein dürfen, es allesamt wollten: an diesem Kinder-Grand-Prix teilnehmen. Denn Kopenhagen war ja nur die – vorläufige – Endstation ihrer Karriere. National hatten sie alle Vorentscheidungen zu überstehen, mussten ins Studio, um ihre Kompositionen von erwachsenen Profis auf Showformat trimmen zu lassen. Dass es sie nicht überanstrengt, war vielleicht auch daran zu erkennen, dass sich bis auf den Kroaten Dino alle auf der Bühne wie auf einem Spielplatz mit Millionenpublikum bewegten. Was im Übrigen auch dazu führte, dass manches Tanzschrittchen nicht recht passen wollte, dass manchem fast das Mikro aus der Hand gefallen wäre. Aber das waren nur Details, gröbere Pannen gab es nicht.

Tom Morley muss es gefallen haben. Guckte in die Kamera, als wollte er mit ihr flirten, sang mit seiner noch knabenhaften Stimme so gut wie bei den Proben nie und machte alles richtig. Ist er nun ein Star? „Ich weiß nicht. Musik ist mein Leben. Ich mag es einfach, auf der Bühne zu stehen und zu singen.“ Vor vier Jahren hat er angefangen, Gesangsunterricht zu nehmen. Als sein Lehrer an einer seltenen Art Knochenkrebs erkrankte, bat der ihn, ein Lied für ihn zu singen. Die Single verkaufte sich 6.000-mal – eine erstaunliche Anzahl für einen, der durch keine Showschule ging und im Elternhaus keine erste Geige spielt. Vater Jack, ein bulliger Typ mit einer ausgesprochen zärtlichen Art, mit seinen Kindern umzugehen, erklärt: „Wir sind hier in Kopenhagen und unterstützen Tom. Aber wenn Jack junior ein Boxturnier hatte, sind wir da auch hingefahren. Oder wenn Jim ein Fußballspiel hat. Und unsere Kleine werden wir auch begleiten.“

Leute wie Tom brauchen die Eurovision für ihr neues Projekt – Kinder mögen Fernsehen, so das Kalkül, und die Mitgliedsländer der Eurovision sollen ihrer sehr jungen Kundschaft ein Programm bieten, das nicht von Gewalt und Horror lebt, sondern von dem, was die Kinder wollen: spielen. Und singen. Und performen. In der dänischen Presse wurde tagelang diskutiert, ob es klug ist, Kinder auf die Bühne zu schicken. Eine Psychologin wurde mit den Worten zitiert, Kinder liebten es zwar, sich darzustellen, aber es sei gewiss gefährlich, sie zu Identifikationsobjekten zu machen.

Das wiederum sahen die Kinder im Kopenhagener Forum womöglich weniger kritisch. Die Hälfte des Publikums ist jünger als vierzehn, und sie genießen das Spektakel unverhohlen: Jeder Act bekommt lautes Gekreisch als Dank, was sich durch Kinderkehlen wie ein hysterisches Vogelgezwitscher im Regenwald anhört. Der Kroate Dino jedenfalls ist neben dem Spanier Sergio und Tom Morley der Liebling. Vor allem die Mädchen gucken sie wählerisch an und rufen Dinge wie „Du bist süß“ oder „niedlich“.

Die Erwachsenen von Danmarks Radio müssen sich natürlich um die kritischen Stimmen zur Veranstaltung kümmern. Also lassen sie die Kinder beteuern, wie sehr sie sich befreundet haben, wie wichtig es sei, miteinander auszukommen, und wie wenig es darauf ankomme, wer nun am Ende gewinnt oder auf dem letzten Platz landet.

Auf dem landete die zwölfjährige Polin Kasia Zurawik, was ihr offensichtlich doch wehtat, denn sie guckte ganz unglücklich, aber immerhin eine Umarmung der Zypriotin Theodora Rafti einbrachte.

Die Beobachter vom Kinderkanal aus Erfurt waren jedenfalls ganz erstaunt über die Zwanglosigkeit der Show. Frank Beckmann, Programmdirektor, sagte, er habe viel Freude an der Natürlichkeit der Acts gehabt. Dass der Wettbewerb sich nicht ausnahm wie eine Leistungsshow europäischer Musikindustrien, sondern wie ein Spiel mit echten Gefühlen und wahrer Leidenschaft. „Wir müssen jetzt überlegen, wie wir das in die ARD bringen“, sagte er, „aber wir denken, dass es ein sehr gutes Produkt ist.“

Und damit hat er Recht, denn beim klassischen Grand Prix, an dem seit zehn Jahren keine Interpreten teilnehmen dürfen, die jünger als 16 Jahre sind, springen keine Interpreten wie beim Torjubel auf, wenn sie zwölf Punkte bekommen haben. Dort wirken die Posen und Tanzschritte eher zu Tode geübte und optimistisch zur Schau getragene Mienen wie eingewachst. In Kopenhagen sah man ungefilterte Freude – und wenig Leid. Selbst die Körper der Sänger und Sängerinnen hatten noch nicht diese Aura von Magersucht und Kraftraum.

Dino Jelusic kam zum Empfang im Kopenhagener Rathaus wie ein Erschöpfter: erwachsen-gestresst sein Habitus. Es schien, als warteten noch größere Prüfungen auf ihn, ehe er seinem Vater und sich gefallen kann. Er weiß nichts davon, dass der Musikkonzern nur wenig glücklich ist über diesen Sieger: Die CD mit den Wettbewerbstiteln und die in Vorbereitung befindliche DVD verkaufen sich schlecht mit einem Jungen vom Balkan: nicht eben ein Markt, der Geld abwirft.

Vielleicht hätte Dino lieber mit den anderen gespielt oder hätte sich das prachtvolle Gebäude mal näher angeschaut, ohne elterliche Aufsicht, wie die anderen Kinder, die das Parkett des Gebäudes zum Spielplatz machten. Tom Morleys Bruder Jack jedenfalls, der Boxer, der kaum mehr trainiert, weil er nun beim Vater als Anstreicher-Azubi Geld verdienen muss, lief umher wie ein Manager, der gerade seinen Künstler erfolgreich durch ein Fegefeuer geschickt hat. Bist du stolz auf deinen Bruder Tom? „Wow, total. Wie ich auf mich war bei meinem letzten Knock-out.“ Das sagte er sehr ernst, winkte, typisch älterer Bruder, mit einer kleinen Geste seinen Tom herbei, knuffte ihn bestimmt zum zwanzigsten Mal und ließ sich von einem Mädchen aus der maltesischen Delegation ein Bier bringen.